Weltoffenheit, Schnauze und Gewerbe

Gregor Gysi formulierte in der Nikolaikirche seine Vision einer deutschen und europäischen Metropole Berlin

Nach dem Ruck durch Deutschland würde Gysi die Haupststadt nun gern bewegen

Die Nikolaikirche in Berlin-Mitte, nur einen Steinwurf vom Roten Rathaus entfernt, ist die älteste Kirche der Hauptstadt. Das im 13. Jahrhundert errichtete Bauwerk, das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und später mühselig rekonstruiert wurde, soll an diesem Montagabend – als Symbol des Wiederaufbaus – die Kulisse für die „Berlin-Rede“ von Gregor Gysi abgeben. Mit einer solchen Ansprache verbindet man seit der berühmten Rede von Exbundespräsident Roman Herzog die Forderung nach einem Ruck, der durch Deutschland zu gehen habe. Nun würde Gysi gerne die Hauptstadt bewegen.

Als der Kandidat nach einer Schweigeminute für die Opfer der Attentate in den USA vor das Rednerpult tritt, wirkt er fahrig, knöpft sich noch beim Betreten der Bühne das Jackett zu. Der Hintergrund ist schwarz gehalten. Sein erster Satz lautet: „Es fällt mir in diesen Tagen schwer zu reden.“ Die Ereignisse in den USA machen der PDS den Wahlkampf nicht leichter. Zu Beginn bekräftigt der Spitzenkandidat – gegen das Parteiprogramm – seine Zustimmung zu einer „begrenzten Militäraktion“ unter Bedingungen. In diesen Tagen, in denen die PDS nach der Regierungsmacht in der Hauptstadt strebt, darf sich die Partei nicht dem Verdacht des Anti-Amerikanismus aussetzen. Aber Gysi spricht auch davon, dass der Kampf gegen den Terror nur zu gewinnen ist, wenn er zu einer „demokratischeren und gerechteren Weltwirtschaftsordnung“ führe. Er erinnert an die „zehntausende Opfer des Terrorismus in Algerien, an die hunderttausende von Kriegstoten in Burundi, Ruanda, Kongo, Angola, Tschetschenien, an die Steinigung von Frauen im Iran“.

Dann aber geht es doch um Berlin. Denn an diesem Abend muss Gysi seine Vision einer Hauptstadt konkretisieren. 29 Seiten umfasst das Manuskript, das der Redner vor sich liegen hat. Gysi, sonst der begabteste Rhetoriker unter den Spitzenkandidaten, begnügt sich mit dem Vortrag des Textes. Nur selten blickt er ins Publikum, die Fähigkeit zur Begeisterung der Zuhörer sucht man vergebens. Kein einziges Mal wird der Vortrag von Applaus unterbrochen.

Die Vorstellung von der „inneren Einheit durch gemeinsame Zukunft“ besteht in einer Absage an Provinzialität und soziale Ungerechtigkeit. Sie beginnt mit einer Würdigung der Ziele des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD): „Sanierung des Haushaltes? Was für eine tolle Perspektive für eine Stadt wie Berlin!“, ruft Gysi aus. Nein, Berlin, die Stadt, von der die Politik eines der mächtigsten Länder dieser Erde ausgehe, brauche einen „intellektuellen und ökonomischen Schub“. Als „Werkstatt der Einheit“ müsse „die größte Stadt zwischen Paris und Moskau“ mit der EU-Osterweiterung zum Drehpunkt zwischen Ost und West werden. Wovon aber lebt eine Hautstadt? „Aufstehen, wo andere noch sitzen bleiben – damit beginnt das Hauptstadtdasein.“ Gysi schwärmt von „demokratisch organisierter Empörung“ und sozialer Anteilnahme: „Berlinerinnen und Berliner – schaut auf diese Welt! Schaut auf eure Nachbarschaft!“

Immer wieder faltet der Redner, passend zum Ambiente, die Hände vor der Brust. Er warnt vor Verslumungstendenzen im „Beton-Berlin“ um den Regierungsbezirk. Er fordert, ein langer Marsch durch die Verwaltung steht bevor, eine Überwindung des „Systems der organisierten Unverantwortlichkeit im Senat“. Er referiert über „Alternativen jenseits des Dilemmas von alter Staatswirtschaft und Neoliberalismus“, über die Gebrüder-Grimm-Grundschule, über eine symbolische Vereinigung der Stadt auf der Spreeinsel, über Wissen als Kapital der Hauptstadt. Apropos Wissen: Oft musste Gysi in der Vergangenheit den Vorwurf hören, er habe von den Problemen der Stadt wenig Ahnung. Nun geht er staatsmännisch ins Detail: „Der Eintrag ins Gewerbezentralregister kann für Existenzgründer auch gebührenfrei erfolgen.“ Erst gegen Ende kommt Gysi auf die historische Dimension der Entscheidung am 21. Oktober zurück.

Schon immer habe in Berlin eine linke Mehrheit existiert, die nie zum Tragen gekommen sei. In Berlin, der selbst von NS-Propagandaminister Goebbels gefürchteten roten Stadt, hofft der PDS-Kandidat erstmals auf ein Miteinander von Sozialdemokraten und den „demokratisch geläuterten politischen Erben von KPD und SED“. Gegeneinander und Sprachlosigkeit der Linken habe Berlin stets geschadet. Nun könne die Stadt zu sich selber, also zu „Herz und Schnauze, verbunden mit Modernität und Weltoffenheit“, finden, schließt Gysi.

Der Beifall, den er erntet, wirkt pflichtgemäß, das Publikum alles andere als enthusiastisch. Nach zweieinhalb Stunden ist in der Werkstatt der Einheit Feierabend. Der Staatsmann Gregor Gysi wird wichtiger. Witziger wird er nicht.

ANDREAS SPANNBAUER