: Kahns Bruder
Spätromantische Klangpracht: Das Berliner Philharmonische Orchester spielte unter der Leitung von Sir Simon Rattle die „Gurre-Lieder“ von Arnold Schönberg
Ein Dirigent muss vor allem eines beherrschen: Er muss es verstehen, Musikalität in Muskelspannung zu übersetzen. Nicht von ungefähr kann „Tonus“ beides bedeuten: „musikalischer Ton“ und „Spannungszustand eines Muskels“. Wer Sir Simon Rattle an einem guten Tag beim Dirigieren beobachtet hat, weiß, wie Musik in Körperbewegungen übergehen kann: wie sie den Leib durchzuckt, wie sich Hände und Mimik an schwierigen Stellen verkrampfen, wie die Muskelpartien sich im Zuge harmonischer Entspannung lockern. Simon Rattle ist wie ein Torwart der Extraklasse. Er will den Ball/Ton um jeden Preis. Er hat ihn vor Augen, aber er hält ihn noch nicht fest. Er antizipiert die Bewegungen des Stürmers/Orchesters. Sein Körper ist bis zum Bersten gespannt, sein Reflex unwiederstehlich.
Am Dienstagabend wäre an Simon Rattle auch nicht Stan Libuda vorbeigekommen. Auf dem Programm stand allerdings nicht Borussia Dortmund, sondern die „Gurre-Lieder“ von Arnold Schönberg. Jenes monströse Stück, mit dem der Wiener Komponist selbst den Strauss der „Elektra“, den Mahler der „Sinfonie der Tausend“ an Monumentalität übertraf. Als Ausstellung spätromantischer Klangpracht ist dieses Werk unübertroffen: fünf Gesangssolisten, ein mehrfach besetzter Männerchor, ein gemischter Chor – vom Bombast des prallen Orchesters ganz zu schweigen. Es scheint nachgerade widersinnig, dass die „Gurre-Lieder“ aus der Feder desselben Komponisten stammen, der in der Zeit, als er 1911 die Partitur nach sechsjähriger Pause abschloss, der musikalischen Romantik mit sechs „kleinen Klavierstücken“ das fällige Ende bereitete.
Schönberg erzählt mit seinen fünfzehn Orchesterliedern keine Geschichte. Vor dem Hintergrund der Gurre-Sage, der tragischen Liebesgeschichte um Knig Waldemar und Tove, stellt er die Szenen stattdessen zu einem Tableau zusammen: von der entrückt verklärten Liebe des ersten bis zur Raserei der untoten Horde Waldemars des dritten und letzten Teiles. Mit wagnerianischer Kraft wühlt Schönberg in den psychischen Tiefen der Charaktere. Während er in der älteren Werkschicht die Palette romantischen Ausdruckspotenzials ausspielt, schlägt Schönberg im später instrumentierten Schlussteil die Brücke vom sinnlichen Impressionismus Debussys zum archaischen Expressionismus Strawinskys.
Das Berliner Philharmonische Orchester aalt sich am Dienstag in der Farbenpracht der Partitur. Im Vorspiel purzeln die Klänge ungeschliffen aus dem Orchester heraus. Dort wo Schönberg die Szene mit unbehaglichem Röcheln unterlegt, lassen die Instrumentalisten ihr Werkzeug bereitwillig schnarren. Die entscheidenden Marken des Werkes liegen allerdings in den dynamischen Höhepunkten, die zu balancieren und kontrollieren dem Dirigenten obliegt.
Am Anfang glaubt man glatt, Rattle dirigiere in die falsche Richtung, wenn er im Wust der Stimmen eine vermeintliche Nebenpartie rudernd beschwört. Bald aber wird klar, dass er dem drohenden Zusammenbruch, den eine Klimax regelmäßig zur Folge hat, entgegenwirkt, dass er der Musik über die Nahtstellen der Partitur hinweg zur Schmiede verhilft und den Höhepunkt über sein Ende weiterführt. Die Gewalt über den Klang ist an diesem Abend perfekt. Mehrmals bricht ein brachialer, von Schönberg bestenfalls ausgebremster Klang derart jäh ab, dass selbst der Nachhall des Raumes auf einige Sekunden aufgehoben erscheint. Und ja: der Chor und die Gesangssolisten führten ihre Partien solide und souverän aus. Unter den Sängern überzeugten Anne Sofie von Otter und Thomas Quasthoff mit kräftiger Präsenz noch im Pianissimo. Aber es waren das Orchester und sein künftiger Chefdirigent, denen der verdient stürmische Applaus galt. BJÖRN GOTTSTEIN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen