Die Essenz von Rock

Schönheit braucht Zeit, auch in Chicago: Im Rahmen des X-Tract-Festivals spielt heute die aus den Überresten von Red Red Meat hervorgegangene Band Califone im Podewil

Jede Szene, die ihr kleines Reich aus Spezialwissen liebevoll pflegt, und sei sie noch so vergessen, hat ein gut funktionierendes Netzwerk, in dem die neuesten Sensationen schnell ausgetauscht werden. In den tapferen Kreisen, in denen man immer noch Country-Musik für den Spross alles Relevanten hält, die Gitarre ein verträumt getätscheltes Instrument geblieben ist und einsame Männer in halbwissenschaftlichen Selbstversuchen die Abgründe des Whiskey-Konsums erforschen, in diesen Kreisen raunte man sich zuletzt einen Namen zu: Califone.

Wie das schon klingt: Califone. Nach Amerika und Sommer und Westen und dem Mythos, der auf dieser Seite des großen Wassers so lange schon gedeiht. Auch nach Melancholie und Trübsal, nach einem sanften Regen vielleicht, nach Verlassensein. Und tatsächlich: So klingen Califone.

Hervorgegangen ist das Quartett vor einigen Jahren aus Red Red Meat, die dereinst noch die letzten Zuckungen des Grunge-Hypes nutzen konnten, um sich mit ihrem Gitarrenrock eine bescheidene Berühmtheit zu erspielen. Drei Viertel jener Band hatte einmal Schlosser gelernt.

Das ist lange her, und wenn die Bandgeschichte langsam in Jahrzehnten notiert wird, stellen sich Ruhe und Besonnenheit wohl wie von selbst ein. Hinzugekommen ist nun noch die Elektronik. Die ist zwar integraler Bestandteil, wenn einen Califone in Atmosphären entführen, die mit E-Gitarre und einem Vox-Verstärker allein nicht zu erschaffen gewesen wären. Aber sie drängt sich nie auf, wird nie benutzt allein des Effektes wegen. So treten die Songs zurück hinter den Klang, der wiederum Stimmungen schafft. Da sind sie Calexico näher als ihren alten Grunge-Kollegen.

Doch im Gegensatz zu Calexico ist ihre Musik nicht aus einem Guss. Wie disparat sie ist, das merkt man ihren Kritikern an: Die einen wollen „drogengeschwängerte Freak-Out-Hymnen“ erkannt haben, während die anderen „Math-Rock“ analysieren, der „durchdacht und reflektiert“ ist. Mancher will gar den frühen David Bowie erkannt haben, wo die nächsten lieber Beck und Badly Drawn Boy heraushören. Tatsächlich haben wir es hier mitunter mit dem gesamten Nachlass des amerikanischen Gitarren-Undergrounds zu tun. Ob Paisley-Psychedelia oder Low-Fi-Reduktion, elektronische Experimente oder Postrock, ja sogar Blues und Country, alle Elemente werden von Califone am liebsten in möglichst reinen Formen aufgenommen und nebeneinander gestellt. Mitunter ist nur noch die Essenz vorhanden, wenn zum Beispiel der Grunge nur mehr angedeutet wird, die E-Gitarren-Riffs reduziert werden auf den einsam nachschwingenden Klang eines einzelnen Akkords, der nun gleichberechtigt neben allen anderen Geräuschen und Sounds steht.

Ähnlich verhält es sich mit Rutilis Texten, die alles und nichts behandeln, oder, wie er es ausdrückt, „Katastrophen, Anmut, Glück, TV-Naturdokumentationen, tote Volkssänger und verwirrende Schönheit“. All das war im eher eindimensionalen Rock von Red Red Meat zwar schon angelegt, aber Califone haben diese Ideen so konsequent ausformuliert, dass sie nun lange schon nicht mehr Rock sind.

Aber schließlich kommen sie aus Chicago, derselben Stadt, die schon Gastr de Sol und Tortoise hervorbrachte, mithin also die Speerspitze des Postrock mit Hang zur Jazzstruktur. Dass sie deren Ansätze längst auch in ihr Konzept integriert haben, ohne dabei die Wurzeln des Country aufgegeben zu haben, ist ein schwer zu erklärendes Kunststück. Vielleicht deshalb, weil das alles so kompliziert ist, spielen Califone so langsam. Schönheit braucht eben Zeit.

THOMAS WINKLER

Heute ab 21 Uhr im Rahmen des X-Tract- Chicago-Festivals im Podewil, Klosterstr. 68, Mitte