„Krieg ist eine CNN-Schlagzeile“

Wie Erwachsene nach dem Anschlag in den USA ihre Ängste auf Kinder übertragen – und was wirklich zu tun ist

Angela Schorr, 46, ist Professorin für Medienpsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Siegen.

taz: Wie nehmen Kinder die Fernsehbilder von den Anschlägen in New York wahr?

Angela Schorr: Nach ihrem kognitiven Entwicklungsstand. Ab fünf- bis etwa neunjährigen Kindern kann man davon ausgehen, dass sie es für einen Unfall halten. In ihrer ursprünglichen Vorstellung gibt es nicht die Idee, dass jemand absichtsvoll mit dem Flugzeug gegen ein Gebäude rast. Das ist praktisch immer die erste Interpretation – und die schützt das Kind, es regt sich weniger auf. Daran sollte man dann auch nicht rühren. Bei ältere Kinder, so ab neun Jahren, ist die Realitätswahrnehmung bereits stärker ausgeprägt, da gehen Vermutungen in kritischere Betrachtung über. Diese Kinder bekommen auch mit, worüber sich die Erwachsenen eigentlich aufregen.

Was können Eltern tun?

Die müssen von Fall zu Fall entscheiden, worüber sie das Kind aufklären. Man kann schon sagen: Es war eine Gruppe von Fanatikern. Bei älteren Kindern kann man die Idee eines religiösen Fanatikers einführen – das gehört zu vorurteilsfreier Erziehung. Keinesfalls sollte man sich drücken und denken: Damit mache ich alles noch schlimmer. Es ist wichtig, die ganz einfachen Schemata den Kindern nahe zu bringen, ohne sie vorurteilshaft zu belegen.

Lehrer rufen zur Solidarität mit Amerika auf, lassen die Schüler beten, malen und Kondolenzbriefe schreiben. Wird hier nicht dilettiert?

Wenn Kinder in der Schule Fragen stellen, zeigen sich natürlich auch die Lehrer überfordert. Wenn aber sowieso Malstunde ist und die Kinder haben diese Bilder im Kopf, warum sollen sie sie nicht aufmalen? Man muss es aber sehr einfach halten und sich wirklich gut überlegen, wie man es vermeiden kann, Vorurteile aufzubauen. Hier sind aber vor allem die Eltern gefragt.

Gerade Kinder sind doch durch zumindest visuell weit blutigere Katastrophenszenarien in Computerspielen oder der „Tagesschau“ geschult. Woraus resultieren die Ängste, wenn nicht aus den Bildern selbst?

Ich erinnere noch sehr genau den Moment, als Kennedy ermordet worden ist. Das war ein solcher Schreck, den die Erwachsenen unmittelbar übertragen haben. Durch lückenlose Dokumentation und moderne Kommunikation werden wir auch die brennenden Türme nicht vergessen – das ist aber noch nicht verbunden mit dem Wort „Krieg“, das ist ein Hochreden. Die eigentlichen Ängste resultieren nicht aus der Macht der Bilder, sondern aus der Kommentierung. Hier muss man beruhigend einwirken.

Es soll auch Kinder geben, die um „die Leute“ trauern wollen, nicht aber „mit Amerika“.

Zwischen sechs und neun Jahren können Kinder, wenn man Druck macht, durchaus zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Auch die Erwachsenen, die aus dem Inferno rauskamen, dachten, sie wären in einem Science-Fiction-Film gewesen. Die haben ihre ungewöhnliche Erfahrung damit abgeglichen, was sie im Kino schon gesehen haben und geprüft: Ist das real oder nicht? Diese Realitätsprüfung machen Kinder noch nicht, das schützt sie wie ein Kokon. Und das ist gut so. Wenn ich mich selber unsicher fühle, darf ich meine Unsicherheit auch nicht übertragen.

Laura Bush hat Eltern empfohlen, ihren Kindern zu sagen, dass sie sie lieben – und dass Amerika ein starkes Land sei, das mit dieser Herausforderung zurecht komme.

Das ist verständlich, halte ich aber auch nicht für brauchbar. Es ist alles dokumentiert, aus allen Winkel ausgeleuchtet. Es gibt keinen Platz für Verschwörungstheorien oder blinde Flecken. Die Katastrophe hat, so bitter das klingt, auch eine demokratisierende, heilsame Wirkung: Der Tod Kennedys war ein Geheimnis, dies hier wird aufgeklärt.

Der SWR hat eine Internetseite eingerichtet, auf der Kinder dazu eingeladen sind, miteinander zu chatten oder sich ihre Ängste über einen Dritten Weltkrieg von der Seele schrieben können. Was halten Sie von solchen öffentlichen Formen der Bewältigung?

Nichts. Hier projizieren Erwachsene ihre Ängste auf die Kinder. Allein das Wort vom Krieg ist hier völlig unangemessen. Wir wissen ja, das ist eine Schlagzeile von CNN. INTERVIEW: ARNO FRANK