Das Kino im Ist-Zustand

Auch in ihrem neuen Fim „Mein langsames Leben“ zeigt Angela Schanelec die großartige Banalität oder banale Großartigkeit des Lebens. Ein Porträt

„Man versucht, im Leben klarzukommen, und dabeivergeht Zeit“

von HARALD FRICKE

Menschen sind so. Wenn Valerie (Ursina Lardi) mit Thomas (Andreas Patton) auf dem Balkon steht und sich über die Sommerhitze in Berlin unterhält, weiß man, dass sie später ein Paar sein werden. Vielleicht nicht glücklich – noch leidet Thomas sehr an seiner Scheidung –, aber doch ein Paar. Und man weiß später auch, dass der Mann von Marie kein zweites Kind haben will, weil er längst mit einer anderen ein Verhältnis hat und der Nachwuchs die Lage nur komplizierter machen würde. Es sind solche Basics des Miteinander, die Angela Schanelecs „Mein langsames Leben“ zusammenhalten und gleichzeitig fragen, wie man überhaupt lebt.

In Schanelecs Filmen sind die Menschen vor allem damit beschäftigt: herausfinden, wie Leben geht. Zwei Stunden lang konnte man etwa in dem 1998 entstandenen „Plätze in Städten“ zusehen, wie Mimmi zwischen Abitur und wechselnden Liebschaften den Weg ins eigene Ich sucht, den sie sich nicht von anderen vorschreiben lassen will. Am Ende sitzt sie still auf einer Treppe in einem Altbau von Paris und schaut durch ein Fenster dem Jungen zu, von dem sie einige Wochen zuvor auf Klassenfahrt schwanger geworden ist. Sie klopft nicht an, sie lässt ihn auf der anderen Seite, abgetrennt von ihrem Ich.

Um sich in diese extreme Subjektivität einfinden zu können, braucht die Berliner Filmemacherin viel Zeit. Körper und Haltungen müssen vor der Kamera erst mal zueinander kommen, damit sie nicht bloß künstliche Zeichen sind, in denen sich das Auf und Ab schwankender Existenzen spiegelt. Leben dagegen dauert: Minutenlang starrt Mimmi beim Essen ins Leere; minutenlang scheinen auch die Blicke und Gesten zwischen den Protagonisten in „Mein langsames Leben“ hin und her zu wandern, ohne damit eine Geschichte zu erzählen – Kino im Ist-Zustand.

Bei der Premiere zur Berlinale im Februar ist Schanelec für diesen Minimalismus heftig angegriffen worden – wozu braucht man Filme, meinten einige erboste Zuschauer, in denen nichts passiert? „Natürlich sind solche Reaktionen hart, aber das ist auch eher typisch für das Publikum in Berlin. Auf anderen Festivals waren die Leute viel aufgeschlossener und höflicher.“ Schanelec nippt an ihrem Tee und spricht so behutsam und vorsichtig über ihre Arbeit, wie sie auch filmt. Nein, es gibt keine übergeordnete Idee, keine bestimmte Weltsicht, die sie mit den Figuren zu bebildern versucht. Auch wenn alles im Drehbuch festgelegt ist, bleibt das, was sich als Geschehen entwickelt, meist in der Schwebe, bricht ab oder nimmt eine völlig andere Wendung. Gleich zu Beginn schwärmt Sophie ihrer Freundin Valerie vom neuen Job in Rom vor; irgendwann gegen Ende des Films ist sie wieder in Berlin, abgespannt und ein wenig desillusioniert. Warum, erfährt man nicht – nur dass sie sich den Italienaufenthalt etwas anders vorgestellt hat, als es gekommen ist.

Schanelec sind solche Auslassungen wichtig. Es reicht, wenn man sich genau auf einige Situationen konzentriert – der Film ergibt sich aus der Dichte des Dargestellten. Das hat die 38-Jährige vermutlich in ihrer Zeit am Theater gelernt, bevor sie 1990 zum Filmstudium an die dffb wechselte. Psychologie oder Einfühlung sind bei ihr keine Fragen der Dramatisierung, sie sind den alltäglichen Verhaltensmustern bereits eingeschrieben: „Schließlich wiederholen sich ständig Dinge auf ähnliche Weise“, antwortet sie lachend auf die Frage, ob man sich deshalb mit den Menschen in ihren Filmen so gut identifizieren kann.

Tatsächlich sind die Zusammenhänge klar. „Mein langsames Leben“ zeigt in einer Art Reigen, wie sich die Generation Mitte dreißig eingerichtet hat im neuen Berlin. Es sind Architekten, Fotografen und Designer; Leute mit geerbten Häusern auf dem Land und sterbenden Vätern in der Provinz. Man hat sich mehr oder weniger in der Bürgerlichkeit eingenistet, man hat feste Beziehungen, aber etwas im Leben schwimmt noch immer: „In unserem Alter hat man sich für bestimmte Dinge zwangsweise entschieden, und trotzdem bleibt das Empfinden und Nachdenken darüber, wie es auch anders hätte werden können.“ Damit verbindet sich für Schanelec weder eine Moral noch der Wunsch nach mehr Utopie: „Man versucht, im Leben klarzukommen, seine Sachen zu ordnen, und dabei vergeht Zeit.“

Diese Zeit ist im Film festgehalten. Was im Befindlichkeitskino der Siebzigerjahre eine unentwegte Verkettung aus Frustrationen über verpasste Chancen war, ist hier jedoch fließend, leicht und melancholisch. Wenn geheiratet wird, singt die Band Mutter davon, dass die Erde „der schönste Platz im All“ ist, während draußen die Blätter im Herbst tanzen und drinnen die Pärchen. Schanelec schaut zu, ohne irgendein Ereignis hervorzuheben, weil sie vor allem anderen die Form interessiert, in der Leben stattfindet. Das klingt nach der unverbrüchlichen Authentizität der Dogma-Filmer, ist aber ganz ohne Pathos nur schüchterne Bestandsaufnahme dessen, was immerfort als Realität wahrgenommen wird. Ein Kind paddelt im Wannsee, Freunde sitzen beim Italiener und planen den Urlaub auf Sardinien, der Vater wird im Krankenhaus besucht, bevor er stirbt.

Gesprochen wird stets nur das Nötigste. Überhaupt stellt Kommunikation in Schanelecs Filmen bloß bedingt Anschlüsse her, so wie etwa Valeries Professor ihre Arbeit zwar kritisiert, „aber er sagt auch nur etwas, mit dem er sie danach allein zurücklässt“. Wie in Filmen Eric Rohmers ist die Rede ein Mittel, die Wirklichkeit zur Fabel werden zu lassen: Im Sprechen vergewissert man sich gemeinsamer Teilhabe an der Welt, die den Bildern quasi vorauseilt, und die der Film hereinholen will ins Geschehen. Manchmal misslingt diese Koppelung. Als Thomas in Paris ein Interview macht, hört man auf dem Band lediglich, das sein Gesprächspartner ihm „nichts zu sagen hat“, dazu Vogelgezwitscher.

Andererseits funktioniert die Reduktion als Schutz, der den Personen ihre Privatheit bewahrt. Bei Schanelec sieht man immerzu, dass einem etwas vom Leben der Figuren vorenthalten wird, dass etwas nicht ganz und gar Film geworden ist. Das Beharren auf diesem Rest an Intimität schafft ihr zugleich die größtmögliche Freiheit als Filmemacherin: „Ich will verstehen, dass Menschen Dinge tun – ohne sie dabei zu verletzen“, sagt Schanelec, und weiter: „Die Grenze bin ich, dann kommt der Schnitt.“

„Mein langsames Leben“. Regie: Angela Schanelec. Mit: Ursina Lardi, Andreas Patton, Sophie Aigner u. a. Deutschland, 2001, 85 Min.