Missing: Sneha, Haarfarbe braun

Nach den Terroranschlägen werden noch mehr als 5.000 Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers vermutet. Verwandte, Kollegen, Freunde

aus New York DAVID SCHRAVEN

Das gelbe Shirt der DBoon All-Stars packe ich zum Schluss in die Tasche. Es ist das Trikot meines Fußballteams. Mark Fason hat mich angerufen, unser Kapitän. „Kannst du heute Abend spielen?“ Ich kann. Es ist das erste Mal seit zwei Wochen. Das erste Mal, seit die beiden Verkehrsflugzeuge ins World Trade Center stürzten. Fußball beruhigt. Auf dem Platz fühle ich mich sicher. Ich denke nicht, ich renne. Und ich mag es, mit den Kollegen danach ein Bier zu trinken. Mark hat gesagt, unser Stürmer ist tot. Er hat in den Twin Towers gearbeitet. Er hieß David – wie ich.

Gestern war ich am „Ground Zero“. So nennen sie den Ort der Katastrophe. In dichten Stößen steigt Rauch aus einer Spalte. Ob es noch irgendwo brennt? Ein Feuerwehrmann nickt: „Was immer es ist, es stinkt wie eine schmelzende Pariser-Fabrik.“

Ich bin die ganze Woche unterwegs gewesen. Ein paar Hush-Puppy-Schuhe hab ich in der City kaputtgelaufen. Denn mein Fahrrad steht bei einer Bekannten in Brooklyn. Meine Haut ist seltsam gerötet, ich kann nur schwer durch die Nase atmen. Ich versuche sie freizuniesen. Meine Mitbewohnerin sagt, das komme vom Trümmerdreck in Manhattan. Ich hatte keine Staubmaske auf. In der Stadt sehe ich viele Menschen, die sich immer wieder an die Nase greifen.

Über 5.000 Menschen werden vermisst. Erst knapp 300 Tote haben sie geborgen. Eine Freundin sagt, der Rest sei zu Asche verbrannt. Die Temperatur in den brennenden Twin Towers sei größer gewesen als in einem Krematorium. Ich habe wohl Leichen eingeatmet.

Ich weiß nicht, wie es sein wird, auf dem Fußballplatz zu stehen und einer von uns ist verbrannt. Mark sagt, David werde noch vermisst. „Aber du weißt ja, wie es ist. Es gibt keine Hoffnung.“ David war ein guter Spieler. Sehr schnell, mit einem guten Schuss. Rund zwei Monate habe ich mit ihm gespielt. Erst vor vier Monaten hat er bei einer Versicherung im World Trade Center angefangen. Vor vierzehn Tagen war er in Schweden, bei seiner Familie. Er hatte keine Freundin. Mark sagt, außer uns habe David nicht viele Bekannte in der Stadt gehabt.

Ich krame in meinen Notizbüchern. Immer wieder habe ich mir Namen notiert, die auf den Flugblättern in der ganzen Stadt hängen. Hinter jeden Namen habe ich die Etage geschrieben, in der das Opfer gearbeitet hat. Nie die Telefonnummer des Suchenden. Ein paar Flugblätter sehe ich immer noch vor Augen. Wie das von Dr. Sneha Ann Phillip, 106. Etage. Es klebte einsam an einem Laternenpfahl an der Ecke Broadway/50. Straße. Auf dem Flugblatt sind vier Fotos, drei farbige, eines in Schwarzweiß. Unter den Fotos ist ein Steckbrief abgedruckt. Augen: braun. Haare: schwarz. Hautfarbe: oliv. Ron Lieberman bittet um Rückruf, falls jemand Frau Phillip gesehen hat.

Es ist Sneha Ann, die auf den Fotos lächelt. Auf einem spielt sie mit einer getigerten Katze. Ein anderes ist vor uralten Säulen aufgenommen, ein feines Relief ist zu erkennen. Sneha Ann schaut direkt in die Kamera – als suche sie die Person dahinter. Auf dem Schwarzweißfoto sind ihre Augen weit geöffnet, die Lippen feucht. Der Kopf ist vorgeneigt, eine Locke hängt ihr ins Gesicht. Sneha Ann ist wohl verliebt.

Die Bewohner der Stadt haben sich verändert. In den U-Bahnen sitzen die Menschen dicht gedrängt. Eine junge Araberin sucht Augenkontakt zu mir, weicht nicht aus, wie sie es sonst vielleicht täte. Unsere Augen treffen sich einen Augenblick lang. Es ist kein Flirt. Es ist die Frage: Gehören wir zusammen? Oder bist du mein Feind?

Ein Mann vor mir trägt eine blaue Breitling-Uhr am Handgelenk. Eine Uhr, die teuer ist und doch nicht auffallen soll. Seine Schultern sind nach vorne gezogen, seine Hände liegen im Schoß. Die Oberschenkel hat er zusammengepresst, die Fußspitzen zeigen nach innen. Der Mann hat Angst.

Unser Fußballplatz befindet sich auf dem Dach des Port & Terminals Pier 40, einem großen Parkhaus am Hudson River. Als ich abends ankomme, ist der Platz gesperrt. Parkwächter haben hier eine Versorgungsstation für die 20.000 Hilfskräfte aufgebaut, die in den Trümmern des World Trade Centers nach Opfern suchen. Wände von Mineralwasser stehen bereit, und Gummistiefel. New York hat gespendet. Im Fernsehen sagen sie, man solle kein Essen mehr bringen, es beginne bereits in den Sammelstationen zu faulen. Ich kämpfe mich zu unserem Platz durch.

Von oben kann ich das Empire State Building sehen. Es strahlt in den amerikanischen Nationalfarben: Blau, Weiß, Rot. Von der anderen Seite hatte man früher einen prächtigen Blick auf das World Trade Center. Jetzt ist nur noch eine Art Vulkan zu sehen: Die Wolkenkratzer in der Umgebung formen einen Berg mit Abhängen und Felsen. In der Mitte der Krater im Neonlicht, aus dem es dampft und lärmt. Der Hudson River Drive ist der Magma-Strom. Eine Kolonne von Lastern rumpelt nach Norden. Über 500.000 Tonnen Schutt müssen abtransportiert werden. Seit Sonntag sind hier 6.000 Trucks entlanggerollt.

Es wird Wochen dauern, bis man auf unserem Platz wieder spielen kann. Ich treffe Mark vor unserer Fußballkneipe. Die Rockmusik ist bis auf die Straße zu hören. Wir stellen uns gegenseitig die Frage, die alle zuerst stellen, wenn sie sich treffen. „Wo warst du am letzten Dienstag?“ Dann gehen wir hinein, ein Bier trinken.