Aufmarsch zwischen Atomwaffen

Die politischen Verhältnisse in Pakistan sind alles andere als stabil. Deshalb befürchten US-Rüstungsforscher unkalkulierbare Folgen, wenn das Land in die angekündigten militärischen Interventionen der USA eingebunden wird

„Es besteht die Gefahr, dass ein Atomsprengsatz den Weg in die Hände der Taliban oder einer anderen extremistischen Gruppe findet“, sagt Joseph Cirincione, Leiter des Forschungsprojektes für Non-Proliferation beim renommierten „Carnegie Endowment for International Peace“ in Washington, in einem Gespräch mit der taz. Pakistan sei in einer ökonomisch katastrophalen Lage und habe keine gefestigten nationalen Institutionen. Allein das Militär halte derzeit das Land zusammen. „Dies ist eine sehr gefährliche Situation.“

Spätestens seit den pakistanischen Atomtests vom Mai 1998 steht fest, dass das militärische Establishment die Fähigkeit besitzt, die Bombe zu bauen. Über bereits stationierte und jederzeit einsatzbereite Atomwaffen ist zwar nichts bekannt. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die produzierten Einzelteile innerhalb kurzer Zeit zu einsatzfähigen Waffen zusammengesetzt werden können. Pakistan hat amerikanischen Schätzungen zufolge genügend waffenfähiges spaltbares Material für mindestens 25 Atombomben.

Das Risiko besteht nach Ansicht des Atomwaffenexperten Cirincione vor allem darin, dass Pakistans Regierung durch eine massive und dauerhafte Militärintervention destabilisiert werden könnte. Käme es zu Unruhen, könnten fundamentalistische Gruppen Zugriff auf das Atomwaffenarsenal bekommen. Es ließe sich ein Schreckensszenario ausmalen, in dem eine Atomwaffe verloren ginge und per Schiff oder Flugzeug in die USA gebracht würde, um sie dort in einem Hafen zu zünden. „Dies würde eine schon jetzt schreckliche Situation in eine globale Katastrophe verwandeln.“

Amin Tarzi vom Zentrum für Non-Proliferation-Studien am kalifornischen Monterrey Institute hält die Gefahr dagegen für gering, dass Atomwaffen im Zuge von Unruhen in die Hände fundamentalistischer Rebellen geraten. Dafür seien diese nicht stark genug. Doch Tarzi sieht die Möglichkeit, dass durch den Sturz der Regierung die Atomwaffen unter die Kontrolle fundamentalistischer Kräfte kommen. Schon jetzt gäbe es innerhalb des Militärs auch fundamentalistische Strömungen. „Was passiert, wenn eine der Fraktionen, die der Taliban sehr nahe stehen, die Kontrolle übernimmt?“

Das Atomwaffenprogramm des pakistanischen Militärs hat schon in der Vergangenheit von militärischen Interventionen der USA in der Region profitiert. Nach dem Sturz des Schah im Iran brauchten die US-Geheimdienste das Land als Basis für die im Iran verloren gegangenen Horchposten, nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan für die Unterstützung der dortigen fundamentalistischen Gruppen. Das Problem der Weiterverbreitung von Atomwaffen hatte im Vergleich zur Bekämpfung des damaligen Hauptfeindes Sowjetunion keine Priorität. Erst zu Beginn der 90er-Jahre wurde der Druck auf Pakistan wieder erhöht – zu spät, um die Entwicklung von Atomwaffen noch zu verhindern.

Jetzt haben sich die Prioritäten der USA offensichtlich erneut verändert. Die pakistanische Militärregierung weiß dies zu nutzen. Als Bedingung für die Erlaubnis zu Überflügen und zur Stationierung von Bodentruppen verlangt Pakistan unter anderem die Beendigung der nach den Atomtests vom Mai 1998 verschärften Sanktionen. „Dies ist ein sehr gefährlicher Präzedenzfall, nicht nur für die USA sondern auch für die Nato“, meint Atomwaffenexperte Tarzi. Wenn die Sanktionen gegen Pakistan beendet würden, sei dies ein falsches Signal. Die Nato, die die Verhinderung der Weiterverbreitung offiziell ihrem Ziel erklärt hat, würde Pakistan faktisch als Atomwaffenstaat anerkennen. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen wäre unterminiert.

Fatale Folgen könnten Unruhen im atomar gerüsteten Pakistan auch für den Konflikt mit Indien haben. „Selbst wenn es keinen vollständigen Kollaps in Pakistan gibt, könnte eine Schwächung der pakistanischen Regierung das indische Militär dazu verleiten, eine endgültige militärische Lösung des Kaschmirkonflikts herbeizuführen“, befürchtet Cirincione. Dies wiederum könne eine „atomare Reaktion“ durch Pakistan provozieren. Ein Atomkrieg in Südasien als Nebeneffekt des von George W. Bush angekündigten Rachefeldzuges wäre demnach eine reale Gefahr. ERIC CHAUVISTRÉ