Pakistans Wilder Westen

Ein sicheres Hinterland für US-Militäreinsätze gegen Afghanistan gibt es nicht: Das mögliche Aufmarschgebiet in Pakistan ist bereits heute ein Minenfeld

Die afghanisch-pakistanische Grenzregion ist „befreites Gebiet“, in dem islamistische Sektenführer die Scharia streng anwenden

aus Delhi BERNHARD IMHASLY

Mit einem möglichen Krieg gegen Afghanistan rückt dessen Nachbarland Pakistan wieder in den Mittelpunkt der Weltpolitik. Das Land bildet ein strategisches Doppelscharnier zwischen Südasien und dem Nahen Osten sowie zwischen Zentralasien und dem Indischen Ozean. Innerhalb Pakistans steht die an Afghanistan grenzende „North-West Frontier Province“ (NWFP) im Brennpunkt. Doch dort verläuft eine weitere Grenzlinie in fünfzig bis achtzig Kilometer Entfernung von der afghanischen Grenze. Dieses Gebiet wäre in einem Landkrieg gegen die Taliban neben einer zweiten möglichen Front im Norden Afghanistans das wahrscheinlichste Truppenaufmarschgebiet.

Offiziell heißt die Region „Federally Administered Tribal Areas“ (FATA). Wer die Provinzhauptstadt Peschawar in Richtung Khyberpass verlässt, kommt kurz hinter der Stadtgrenze an einen Schlagbaum der „Frontier Constabulary“. Passieren darf nur, wer eine Bewilligung für das Stammesgebiet hat. Die eigentlichen Herren dieser Zone sind die Bewohner der FATA. Sie fallen sofort durch ihre Waffen auf. Was im restlichen Pakistan ein Delikt wäre, ist hier als traditionelles Recht der lokalen Stämme erlaubt.

Die FATA ist ein Überbleibsel der Kolonialzeit, als die Briten überdrüssig waren, die Bergstämme der Yusufzai, Afridi, Ghilzai, Mohammadzai, Barakzai, Mahsud und Waziri ständig mit Waffen zu „befrieden“. Zwei schwere Niederlagen ihrer Expeditionskorps im 19. Jahrhundert hatten sie an den Verhandlungstisch mit Afghanistan gezwungen. 1893 einigten sie sich mit König Abderrahman Durrani auf eine Grenzziehung. Der konnte dabei sicherstellen, dass er auch jenseits der neuen Grenze des indischen Vizekönigreichs auf die Unterstützung seiner Stammesgenossen zählen konnte, wenn er die Grenze überschreiten wollte.

Das unabhängige Pakistan stellte die Grenzregion unter die direkte Kontrolle der Zentralregierung, wobei die „Frontier Regulations“ garantieren, dass die Clans weiterhin ihrer eigene Rechtsordnung folgen können, mit Ältestenräten und Standgerichten, mit kriegerischen Stammesfehden und vor allem Schmuggel – von Waffen und Waschmaschinen, Drogen und Fernsehern.

Das großzügige pakistanisch-afghanische Abkommen über den Transithandel, das in Wahrheit den Schmuggel legalisiert, war eines der Mittel, um die latenten postkolonialen Unabhängigkeitsbestrebungen der Stämme zu kontrollieren. Auch die poröse Grenze mit ihren 200 Bergpässen und zahlreichen Talschleusen und das großzügige Transitabkommen, das Pakistan pro Jahr vier Milliarden US-Dollar entgangener Zölle kostet, erlaubte einen freien Grenzverkehr und nahm solchen Bestrebungen die Spitze. Bei einer Fahrt vom pakistanischen Parachinar nach Khost in Afghanistan 1994 wurde dem Besucher die Grenze erst bewusst, als sie bereits überschritten war – in Form eines entgegenkommenden Lastwagens, der auf der „falschen“ Straßenseite fuhr. Man war schon in Afghanistan angekommen, wo im Gegensatz zu Pakistan der Verkehr auf der rechten Hälfte der Strasse rollt.

Die durchlässige Grenze und ethnische Überlappung machte diese Ostflanke Afghanistans nach 1979 zum idealen Aufmarschgebiet der Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer. Die FATA und Baluchistan weiter südlich wurden zum wichtigsten Sammlungs-, Ausbildungs- und Versorgungsraum des afghanischen Widerstands, mit Peschawar nahe der FATA als logistisches Zentrum. Die Mudschaheddin konnten überall entlang der 1.400 Kilometer langen afghanisch-pakistanischen Grenze ins besetzte Gebiet vorstoßen oder sich von dort zurückziehen.

Dies hatte auch zur Folge, dass der Widerstandskampf noch stärker unter die Dominanz der Paschtunen geriet, der übergreifenden ethnisch-linguistischen Kategorie, die alle Grenzstämme im Süden und Westen bis tief nach Afghanistan hinein verbindet. Die Taliban sind, auch wenn sie nicht den dominanten Clans entstammen, in ihrer großen Mehrheit Paschtunen. Zum Ärger ihrer pakistanischen Förderer erkennen sie die Staatsgrenze nicht an. „Der Triumph der Taliban,“ sagt der Journalist Ahmed Rashid, „hat die Grenze praktisch aufgehoben.“

Die Taliban mögen mehrheitlich aus der Grenzregion kommen, doch wuchsen sie meist in den Flüchtlingslagern auf, die im Verlauf des zehnjährigen Krieges gegen die Sowjets entlang der Grenze aus dem Boden schossen. Die Region wurde auch zum größten offenen Waffenbazar der Welt – selbst Panzer konnte man in den 80er Jahren in Darra kaufen. Und mit der migrationsbedingten Schwächung von Familien- und Clanstrukturen boomte der Drogenschmuggel. Als Folge dieser Heroin und Kalaschnikow-Kultur blühten auch die Koranschulen auf. Heute rekrutieren die islamistischen Parteien in der FATA ihre glühendsten Anhänger – nach den Erschütterungen des Kriegs wird Religion zum einzig sicheren Existenzgrund.

Damit ist das Aufmarschgebiet für den „ersten Krieg des 21. Jahrhunderts“ bereits ein Minenfeld. Zwar verfügen Pakistans Streitkräfte dort über große Manöverzonen und militärische Infrastruktur. Auch das Atomtestgelände von Chagai in Baluchistan, wo Pakistan im Mai 1998 seine ersten Nuklearsprengköpfe zündete, liegt keine fünfzig Kilometer von der Grenze entfernt. Doch FATA und Baluchistan pochen weiter auf ihre Sonderrechte. Diese gelten heute allerdings nur noch beschränkt für die Aufteilung der jeweiligen Schmuggel- und Weidezonen. Stattdessen haben islamistische Sektenführer sie zu befreiten Gebieten erklärt, in der die Scharia voll angewendet wird.

In der nördlichen Malakhand-Region beansprucht die „Bewegung für die Durchsetzung von Mohammeds Gesetz“ die alten Stammesrechte für sich und setzte an Stelle der Clanchefs bereits ihre Sektenführer. Nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Regierungstruppen gelang es der „Tehrik e-Nifas“, ihre Version des Schariats durchzusetzen, auch wenn dies den Landesgesetzen widerspricht. Falls US-Truppen in der FATA ihre Basislager errichten wollen, werden sie zuerst mit ihrem Freund fertig werden müssen, bevor sie sich dem Feind zuwenden.