Im Visier: Die üblichen Verdächtigen

Die Diskusion über den Islam nach dem Terroranschlag auf New York ist von Stereotypen unterlegt. Die Kreuzzugsmetapher gehört genauso dazu wie das Bild vom irrationalen Gotteskrieger. Diese Bilder haben sich kulturell eingeprägt. Sie sind leicht abrufbar. Eine kurze historische Ursachenforschung

„Es wird ein wilder Mann sein. Seine Hand wird sich gegen alle erheben“

von PETER HEINE

„Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“, sind die letzten Worte in Michael Curtiz’ Film „Casablanca“. Gleichgültig, wo, wie und wann Terroranschläge gemeldet werden, stets liegt die Vermutung nahe, die Urheber seien im Millieu islamischer Extremisten zu suchen. Diese reflexartige Reaktion der Öffentlichkeit hat auch historische Wurzeln.

Für die europäischen Christen des frühen Mittelalters war es unvorstellbar, dass es noch andere Gottgläubige geben könnte, von den Juden abgesehen, die im göttlichen Heilsplan vorgesehen waren. Man sah den Islam als eine christliche Häresie an und durchforstete das Altes Testament auf Hinweise auf dieses Phänomen. Im Buche Genesis XVI, 12 lasen die mittelalterlichen Christen: „Es wird ein wilder Mann sein. Seine Hand wird sich gegen alle Menschen erheben, und aller Menschen Hand wird sich gegen sie erheben, und er wird sein Zelt aufrichten gegen alle seine Brüder.“ Dieser wilde Mann war der Islam. Der Kampf gegen ihn war im göttlichen Plan vorgesehen.

Problematisch für das christliche Abendland war die Tatsache, dass die islamische Welt ihr damals in vielen technologischen und geistigen Bereichen überlegen war. Europäische Gelehrte mussten nach Cordoba oder Granada gehen, um dort die Werke arabischer Gelehrter ins Lateinische zu übersetzen.

Eine Konsequenz waren umfangreiche Missionierungsbemühungen, die aber ohne jeden Erfolg blieben. Die Verweigerung der christlichen Botschaft wurde als besondere Boshaftigkeit verstanden. Mit dem „Deus vult“ (Gott will es) der Kreuzzüge wurde eine neue Phase der Beziehungen zwischen Morgen- und Abendland eingeläutet. Sie war militärisch für das Abendland nur bedingt erfolgreich, wurde aber in der historischen Tradition als Sieg verstanden, in dem das Massaker von Konstantinopel vergessen, die Eroberung Jerusalems überhöht wurde. Die etwa hundert Jahre, in denen sich Kreuzritter im heiligen Land aufhielten, boten vielfältige Gelegenheiten, die Kenntnisse der Muslime in Medizin, Mathematik, Literatur, Kochkunst aufzunehmen und in Europa bekannt zu machen. Solch ein Vorgang konnte nicht ohne das Entstehen von Minderwertigkeitskomplexen auf der abendländischen Seite vonstatten gehen. Man suchte daher Bereiche, in denen man sich überlegen fühlte.

Die fand man in der Moral. Man dünkte sich besser als die Muslime. Die Tatsache, dass das islamische Recht das Institut der Scheidung kennt, war für die abendländischen Moralisten schon schlimm genug, die Tatsache aber, dass ein Mann gleichzeitig mit vier Frauen verheiratet sein konnte, wurde als ein schlagender Beweis für die moralische Überlegenheit des christlichen Abendlandes gegenüber dem Islam angesehen. Das asketische Christentum der Gotik sah das Versprechen des Korans, das den gläubigen Muslimen im Paradies auch sexuelle Freuden versprach, als weiteren Beleg für die Sündhaftigkeit des Islams. Gerade dieses Stereotyp wird von der gegenwärtigen antiislamischen Polemik gerne wieder aufgenommen.

Die militärischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den Türkenkriegen taten ein Übriges, um das Bild vom aggressiven und grausamen Islam zu verstärken. Bis ins späte 19. Jahrhundert blieb die Angst vor der „Türkennot“ ein ständiges Thema in Kirchen und Kaschemmen. Es waren also zwei Momente, die den Islam in der Sicht der Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit bestimmte: Aggressivität und zügelloser Sensualismus.

Die so verstandene moralische Überlegenheit bot auch eine Begründung für die mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende koloniale Expansion der europäischen Staaten, die sich auch gegen die islamische Welt richtete. Die Verbreitung der Ideale der Französischen Revolution wurde von Napoleon als Motiv seiner ägyptischen Expedition vorgeschoben. Die „Fabian Society“ fühlte sich verpflichtet, ihre Theorien auch in islamischen Gesellschaften zu verbreiten, und Agenten der Komintern operierten seit den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern des Nahen Ostens. Immer ging es dabei darum, von einer überlegenen theoretischen, politischen und moralischen Warte die islamische Welt zu belehren und zu beherrschen. Diese neuen Missionare waren erfolgreicher als ihre mittelalterlichen christlichen Vorgänger. Unterschiedliche Spielarten moderner europäischer Ideologien vom Marxismus bis zum Nationalismus wurden von den Eliten islamischer Staaten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgenommen und für ihre Machtausübung instrumentalisiert. Bis zum Beginn der 70er-Jahre fühlten sich der Westen und die sozialistischen Staaten mit dieser Situation recht wohl. Angesichts vergleichbarer ideologischer Voraussetzungen konnte man von einer Berechenbarkeit der politischen Entwicklungen der islamischen Welt ausgehen.

Die nach der Niederlage der arabischen Staaten im Sieben-Tage-Krieg von 1967 einsetzende Reislamisierung wurde im Westen zunächst kaum wahrgenommen. Daher wurde der Erfolg der „islamischen Revolution“ in Iran, mit Überraschung und Unverständnis zur Kenntnis genommen. Und flugs tauchten nun die alten Stereotypen wieder auf von der Aggressivität des Islams. Hatte man den Schah und den durch ihn praktizierten feudalen Lebensstil als Teil des Westens betrachtet, so erschien der Ayatollah Khomeini als eine Gestalt aus dem finstersten Mittelalter. Irrationalität wurde dem Revolutionsführer vorgeworfen. Der in dem folgenden iranisch-irakischen Krieg propagierte Märtyrertod war ein zusätzlicher Beleg für die Aufgabe von Vernunft und Rationalität. Seit der islamischen Revolution ist Irrationalität ein weiteres Element der Islamophobie.

Die Faktoren Agressivität, Irrationlität und Sensualismus spielen bis heute in der Islamophobie des Westens eine entscheidende Rolle. Wobei sich der Vorwurf der Zügellosigkeit mit der sexuellen Befreiung im Westen in ihr Gegenbild umkehrte: Nun wird dem Islam, auch in Zusammenhang mit der Kopftuchdebatte, sexuelle Verklemmtheit vorgeworfen.

Der Autor ist Islamwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin