Vom Terror zur Kapitulation gebracht

Aus Angst vor weiteren Attentaten planen immer mehr Israelis ihre Zukunft im Ausland. 14 Prozent der jüdischen Bevölkerung spielen nach jüngsten Umfragen mit dem Gedanken auszuwandern. Die USA sind bevorzugtes Ziel

Auf der Suche nach einem Neubeginn: Unter den 24- bis 43-Jährigen Israelis ist der Wille zur Auswanderung besonders hoch

JERUSALEM taz ■ „Die Chance, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, gibt es auf der ganzen Welt. Aber hier besteht zusätzlich die Gefahr, Opfer eines Terrorattentates zu werden.“ Das sagt Amos Sahar, Mitte 30, er ist verheiratet und hat ein Kind. Das Attentat in Tel Aviv, bei dem im Juni mehr als 20 Menschen ums Leben kamen, war der letzte Anstoß für ihn, konkret über einen Neuanfang in einem anderen Land nachzudenken: „Ich will nicht die nächste Gans sein, die ihren Hals dem Schlachter hinhält.“ In Israel könne ihm derzeit niemand Sicherheit garantieren. „Ich bin für meine Familie verantwortlich“, sagt er und betont, dass er sich „keinesfalls rechtfertigen muss.“

Im „y-net“, einem populären israelischen Chat-Room, gibt Sahar zu, dass ihn „der Terror zur Kapitulation gebracht hat“. Er löste damit eine heftige Debatte aus. „Wäre dies eine Schlacht, hätte ich das Recht, dir in den Rücken zu schießen“, schreibt einer aus der Chatgemeinde, und ein anderer warnt: „Solange du Jude bist, hast du keinen anderen Platz auf der Welt“.

Einen „Loser“ und „Feigling“ schimpfen ihn die Chatfreunde. Nur wenige geben zu, genauso zu denken wie er. „Ich habe die Opfer von Terroranschlägen gesehen“, sagt Sahar. Die Körperteile von Kindern, die eine Stunde vor dem Attentat vielleicht noch im Kino gewesen waren oder am Strand. „Meinem eigenen Kind bin ich eine glückliche Zukunft schuldig.“ Dabei unterstütze ihn seine Familie, vor allem seine Eltern und Großeltern, die überzeugte Zionisten seien. Sahars Geschwister denken inzwischen selbst ans Weggehen.

14 Prozent der erwachsenen jüdischen Bevölkerung erwägen auszuwandern, besagen Umfragen der Tageszeitung Ha’aretz. Bei den 24- bis 43-Jährigen liegt die Zahl der Emigrationswilligen sogar bei 28 Prozent.

Sahar gehört als junger Familienvater zu den klassischen Kandidaten. Mit zunehmendem Alter sinkt verständlicherweise die Bereitschaft, den Sprung in eine ungewisse Zukunft zu wagen. Für die Jüngeren spielt wiederum nicht allein die Sicherheitssituation eine Rolle bei dem Gedanken, es woanders zu versuchen. Günde sind auch die seit Monaten andauernde Wirtschaftskrise und die wachsende Arbeitslosigkeit. Die Hightech-Branche steckt in einem tiefen Einbruch. Ob es im Ausland für die Programmierer aber besser aussieht, ist fraglich. Schließlich ist die Hightech-Krise nicht auf den Nahen Osten beschränkt.

Bei einem Arbeitsvermittlungsbüro für Fachkräfte, die im Ausland arbeiten, stieg die Nachfrage in den vergangenen Monaten um 10 Prozent an. Gleichzeitig sank das Angebot im Hightech-Bereich, vor allem in den USA.

Nordamerika ist das begehrteste Ziel. Dorthin wollen 43 Prozent der Umfrageteilnehmer. Mit 18 Prozent folgt Australien, 14 Prozent würden nach Europa umziehen; davon allerdings nur ein Bruchteil in die Bundesrepublik. 5 Prozent wollen nach Kanada. Um ein Drittel stieg die Nachfrage auf eine „befristete Staatsbürgerschaft“ bei der kanadischen Botschaft in Tel Aviv. Dabei sind es vor allem Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die in Israel nicht glücklich geworden sind – und Palästinenser aus dem Westjordanland.

Auch die britische Botschaft meldet ein verstärktes Interesse der Israelis an einer Emigration auf die Insel. Eran Dengler, Generalsekretär der Umzugsfirma „Ocean“, die Transporte ins Ausland organisiert, beschreibt seine Klientel als „vorwiegend akademisch“. Die wenigsten der alteingesessenen Israelis würden zudem von „Auswandern“ reden. Sie definierten ihren Umzug als vorübergehend und nur für ein paar Jahre. Dann werde man wieder zurückkehren. Der soziale Druck ist groß.

Amos Sahar hält sich bedeckt über seinen Wunschort, einen „großen, demokratischen Staat“. Vorläufig habe er jedoch weder eine Arbeitsstelle noch eine Wohnung. Dazu komme ein langer bürokratischer Weg. Sahar rechnet mit zwei bis drei Jahren, bevor er tatsächlich ausreisen kann.

Seine Familie lebt seit acht Generationen in der Region. Er ist deshalb nicht in der glücklichen Lage, Anspruch auf einen zweiten Pass geltend machen zu können, so wie viele andere, deren Eltern nach der Staatsgründung aus Europa einwanderten.

Bereits vor 15 Jahren veröffentlichte der Journalist Ben-Zion Ziterin den Ratgeber: „Alle Wege, einen Zweitpass zu ergattern“. Damals seien seine Leser vor allem Geschäftsleute gewesen, die nicht unbedingt auswandern wollten, sondern in kommunistischen oder arabischen Ländern Investitionsobjekte oder Handelspartner suchten. „Mit dem Osloer Friedensabkommen ging der Verkauf des Buches schlagartig zurück“, berichtet Ziterin. Abgesehen von kurzen Nachfrageschüben nach dem Mordanschlag auf den Premierminister Jitzhak Rabin und dem Regierungswechsel 1996, als der konservative Benjamin Netanjahu die Regierung in Jerusalem übernahm, blieb der Ratgeber ein Ladenhüter.

Inzwischen ist wieder eine Neuauflage im Druck. Diesesmal sind es private Familien, die sich mit dem Buch über die Zweitpassfrage schlau machen wollen, „um für die Katastrophe vorbereitet zu sein“. SUSANNE KNAUL