Erkundungen im Niemandsland

Zwischen Drama und Satire: Das Filmfest zeigt jüngere Filme aus dem Iran  ■ Von Urs Richter

1,4 Million Afghanen leben als Flüchtlinge im Iran, informiert uns Majid Majidi zu Beginn seines Filmes Baran. Weitere Millionen af-ghanischer Menschen seien auf der Flucht in die Nachbarstaaten, melden nun täglich die Nachrichten. So rücksichtslos kann Realität den Film überrunden. Was sie nicht einholen kann, ist sein Versprechen. In der Rekonstruktion von Realität eröffnet sich jeder Film die Möglichkeit, Ereignisse umzuordnen, Gründe zu behaupten, beim Erzählen Sinn zu stiften.

Baran, der neben zwei weiteren iranischen Filmen in diesen Tagen auf dem Filmfest zu sehen ist, gibt ein großes Versprechen. Der Film individualisiert die Not der Immigranten im Schicksal einer einzelnen Familie und erzählt sie aus der Außenperspektive, aus Sicht des pubertierenden Iraners Lateef. Der bekocht Arbeiter auf einer Baustelle, darunter viele afghanische Illegale. Einer von ihnen fällt vom Gerüst, Beinbruch. Anderntags tritt sein Sohn zur Arbeit an, ein Kind noch. Der Junge hat volle Lippen, lange Wimpern, kann keine Zementsäcke tragen, aber Ordnung in der Küche halten. Lateef schikaniert den Konkurrenten öffentlich, beobachtet ihn heimlich und entdeckt lange Haare, die unter dem Kopftuch versteckt sind. Lateef ist verliebt.

Oft ist darauf hingewiesen worden, dass im staatlich zensierten iranischen Kino gesellschaftliche Konflikte nicht anders angesprochen werden können, als vermittels Geschichten aus der Welt und in den Augen von Kindern. Dass diese Strategie auch zu einer Masche werden kann, ist ein Vorwurf, den Majidi sich nach The Color of Paradise und jetzt Baran gefallen lassen muss. Onkelhaft verklären seine Filme die anerzählten Probleme zu Märchen und kappen den realis-tischen Bezug. Zum Dank erhält Majidi den diesjährigen Douglas Sirk-Preis des Filmfests.

Viel eher hätte diese Anerkennung Abolfazl Jalili verdient. Sein Film Delbaran erzählt ebenfalls von einem afghanischen Flüchtlingskind im Iran, dem seine Arbeitskraft im Tausch gegen stillschweigende Duldung abgepresst wird. Kaim schuftet auf einer abgelegenen Raststätte an der Grenzroute, sein Boss macht Geschäfte als Menschenschmuggler, ein Polizist zürnt regelmäßig, lässt sich aber meist über einem Gläschen Tee beschwichtigen.

Viel passiert nicht in Jalilis Geschichte. Seine Achtsamkeit gilt den tausend Handgriffen und Tricks, die der Alltag in der Wüstenei erfordert. Um Motoren, Pumpen oder Schrotflinten kümmern sich die Figuren ausgiebiger als umeinander. Ein einziges Mal nur blicken wir in Kaims Seele, einem vorbeireisenden Arzt erzählt er, nie wieder zur Familie nach Afghanis-tan zurückkehren zu wollen. In seinem tapferen Blick glänzt die Lüge. Jalili zwingt uns, diese harte Absage in einem Minimum an Einstellungen zu ergründen. Geschützdonner hinterm Bergkamm. Eine Rolle Stacheldraht, über die eine Filzdecke geworfen wird. Der Isolation der Bilder, die sich nur langsam zu Handlungen montieren, entspricht die Zurückhaltung, mit der sich Jalili einer narrativen Verwertung annähert. Dieses hervorragend kluge Kino zieht die Grenze des Erzählbaren sehr genau – und mag darüber hinaus nichts versprechen.

Babak Payamis The Secret Bal-lot ist eine souverän gefilmte Demokratiesatire. Ein mürrischer Soldat auf Inselposten muss eine ambitionierte Wahlhelferin beim Stimmeneinsammeln begleiten. Niemand kennt die Kandidaten, die meisten Leute verstehen kein Iranisch oder haben besseres zu tun: Demokratie als absurdes Versprechen im Niemandsland. Eine Handvoll fragwürdiger kalifornischer Stimmzettel lässt grüßen.

Delbaran: heute, 20 Uhr, Abaton + morgen, 21 Uhr, Metropolis; Baran: Do, 27.9., 19 Uhr, Cinemaxx (+ Verleihung des Douglas Sirk-Preises) + Sa, 29.9., 17.15 Uhr, Zeise; The Secret Ballot: Sa, 29.9., 19 Uhr, Metropolis + So, 30.9., 17.30 Uhr, Abaton