Drei Milliarden DNA-Bausteine

Die Welt ist nicht genug (7): Nach der Konferenz in Durban müssen wir uns endgültig von der Sklaverei und dem anhaltenden Rassismus befreien

■ Seattle, Tokio, Göteborg und Genua – die Weltordnung der „New Economy“ wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Kritiker der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht aus dem neuen Protest?

von NADINE GORDIMER

Es ist allgemein bekannt, dass Konferenzen mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten.

Die UNO-Weltkonferenz gegen Rassismus, an der 2.500 Regierungsvertreter aus allen Teilen der Welt, 1.000 Nichtregierungsorganisationen und tausende Unterstützer der einen oder anderen umstrittenen Position teilnahmen, endete mit zumindest zwei Antworten.

In der Abschlusserklärung wurde Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Das Anrecht der Palästinenser auf Rückkehr und auf ihren Besitz in Israel wurde festgeschrieben und die „fremde Besatzung“ Palästinas durch Israel verurteilt.

Sklaverei und Nahostkonflikt, beides höchst umstrittene und emotionsgeladene Themen, erhielten die größte Aufmerksamkeit durch die Medien. Dabei wurden auch die unterschiedlichen Forderungen nach Reparationsleistungen zu Gunsten der Nachfahren von Sklaven deutlich. Während die Afroamerikaner und einige afrikanische Staaten von den westlichen Ländern, die am Sklavenhandel beteiligt waren, eine Entschuldigung und individuelle finanzielle Entschädigungen forderten, traten Südafrika und andere afrikanische Staaten für Reparationen ein, die in Form von Entwicklungsprogrammen zu Gunsten von Gemeinwesen in Afrika und seiner Diaspora geleistet werden sollen.

Die Forderung nach individueller Entschädigung, die mit dem auf den ersten Blick einleuchtenden Verweis auf die deutsche Entschädigung von Holocaust-Opfern begründet wurde, disqualifizierte sich letztlich, weil ihre Umsetzung unmöglich ist: Wie sollten über Generationen hinweg über die Welt verstreute individuelle Nachfahren von Sklaven ermittelt werden? Wer sollte etwas erhalten und wie viel? Im Gegensatz dazu leben immerhin noch Holocaust- Opfer, oder ihre Nachkommen sind nur durch eine Generation von der Katastrophe getrennt.

Verblüffende Auslassungen

Die Konferenz eröffnete den westlichen Ländern Möglichkeiten für gerechte und umsetzbare Formen des Handelns; jetzt geht es darum, die Nachkommen der westlichen Sklavenhändler zur Akzeptanz der Entscheidungen und damit zur Durchführung von Entwicklungsprogrammen zu verpflichten. In der Erklärung über die Entschädigung für Sklaverei in Form von Entwicklungsprogrammen gibt es jedoch eine verblüffende Auslassung: Die arabischen Sklavenhändlernationen werden mit keiner Silbe erwähnt. Die Versklavung von Afrikanern durch Araber war bereits im Gang, als die Europäer diese grausame und furchtbare Form von profitträchtigem Rassismus aufgriffen; und noch immer betreiben in Mauretanien und Sudan Araber und ihre afro-arabischen Gefolgsleute Handel mit Sklaven. Warum werden die arabischen Staaten nicht zu Reparationsleistungen für die Nachkommen der 11.512.000 von ihnen über Jahrhunderte versklavten Afrikanern aufgefordert – eine Zahl, die fast ebenso hoch ist wie die der 11.863.000 Afrikaner, die durch den Sklavenhandel des Westens, der USA und Großbritanniens verschleppt wurden (nach Ronald Segal: „Islam’s Black Slaves“, Farrar, Straus & Giroux 2001). Diese Frage wurde auf der Konferenz nicht gestellt, aber eine Antwort darauf muss weiterhin eingefordert werden.

Die Entscheidung der US-amerikanischen und der israelischen Delegationen, die Konferenz zu verlassen, wurde allgemein als schwerwiegender Fehler wahrgenommen; mit Sicherheit hat er dem Ansehen der beiden Länder geschadet – schließlich ist es die Voraussetzung einer solchen Konferenz, sich den Sichtweisen und Anschuldigungen anderer zu stellen. Dabei stieß der Rückzug der israelischen Delegierten angesichts der drastischen rassistischen Beschimpfungen durch südafrikanische und ausländische islamische Extremistengruppen, denen sie sich ausgesetzt sahen, auf ein vergleichsweise größeres Verständnis. Diese Gruppen nahmen den israelisch-palästinensischen Konflikt zum Anlass für Antisemitismus und zeigten zugleich nicht den geringsten Respekt für Konferenzsitzungen, die anderen Themen gewidmet waren. Ich nahm an einer Diskussion über die Gen-Revolution teil, in der es um die Implikationen der Entdeckung des menschlichen Genoms und die Gefahren rassischer genetischer Auslese ging; irgendwann verstand niemand mehr den anderen, weil vor der Tür islamische Gruppen lauthals einzelne israelische Delegierte beschimpften. Die Protokolle der Weisen von Zion, der berüchtigte „Urtext“ des Antisemitismus, wurde von islamischen Organisationen offen verkauft. Auf dem Weg zum Taxistand sah ich mich mit einem jungen Mann konfrontiert, der T-Shirts mit einem antisemitischen Logo verteilte.

Es gibt – wahrscheinlich mit einiger Berechtigung – Spekulationen darüber, dass die Rückzüge der USA und Israels in einem Zusammenhang stehen. So wurde der Verdacht geäußert, dass die USA selbst sich den Widerstand gegen die palästinensische Forderung, Zionismus als Rassismus zu verurteilen (wodurch dem Staat Israel die Existenzberechtigung abgesprochen würde), zur eigenen Angelegenheit machten, um so nicht nur ihre Waffenlieferungen an Israel zu legitimieren, sondern darüber hinaus die Aufmerksamkeit von dem sie direkt betreffenden Thema abzulenken: den Auswirkungen von Sklaverei. Die Theorie, dass Israel dem Auszug seines Zahlmeister folgte, muss allerdings im Lichte der krassen Provokation durch die antisemitischen Beschimpfungen gesehen werden.

Mehr einzelne Stimmen

Trotz der berechtigten Angst, dass die Konferenz ohne die zwei Staaten, die für ihre vorrangigsten Themen – Sklaverei und Nahostkonflikt – standen, auseinander fallen würde, erwies sich ihre Abwesenheit aus verschiedenen Gründen vielleicht sogar als Vorteil. Zum einen trat die Wichtigkeit der „Voice Forum“-Sitzungen hervor, in denen Gruppen und Einzelpersonen ihre Erfahrungen mit den verschiedenen Arten rassistischer Intoleranz beschrieben. Die australischen Aborigines, die Dalits, Opfer des indischen Kastensystems, die indigenen Völker verschiedener südamerikanischer Länder, die Opfer religiös begründeter rassistischer Verfolgung bei Konflikten in Afrika und Osteuropa – sie alle legten Zeugnis ab von hinterhältigen Formen des Rassismus, die auf diese Weise wie nie zuvor ins Bewusstsein der Welt rückten. Ein Beispiel sind die Roma, die die meisten Leuten als „Zigeuner“ kennen: Ein hochintelligenter junger Freund von mir fragte, „Wer sind diese Menschen? Ich habe noch nie von ihnen gehört.“ Die Konferenz hat vielen das Bewusstsein geöffnet. Bevor man handeln kann, muss man wissen.

Zum anderen hat die Abwesenheit der USA und Israels die rhetorischen Haarspaltereien so verringert, dass man letztlich in den Formulierungen zumindest einen Konsens erzielen konnte, der den Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts und der Sklaverei ernsthaft gerecht wird, ohne dabei neues Konfliktpotenzial in sich zu bergen.

Was muss nun, auf der Basis der gemeinsamen Abschlusserklärung, getan werden? Sklaverei war und ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es liegt in den Händen der entsprechenden Regierungen, ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden und die vereinbarten Reparationsformen zügig umzusetzen: die Entwicklung von Infrastrukturen, Kommunikationsnetzen und sozialen Dienstleistungen in Gemeinschaften der afrikanischen Diaspora und in den afrikanischen Ländern, in denen Menschen versklavt wurden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis diese Verpflichtung – in Durban, in Afrika, im Jahr 2001 – anerkannt wurde; kein weiteres Jahr sollte ohne Handlungen gegen das Verbrechen der Sklaverei vergehen.

Recht auf Rückkehr?

In dem Moment, da ich diesen Text schreibe, drei Tage nach dem Ende der Konferenz, habe ich noch keine Reaktion Israels zur Erklärung über das Rückkehrrecht der Palästinenser und die Verurteilung israelischer Besatzung in Palästina gehört oder gelesen. Tatsächlich ist nicht klar, ob sich die Formulierung von der „fremden Besatzung“ auf die illegale militärische Okkupation palästinensischer Gebiete und die Errichtung von Siedlungen bezieht, die seit der ursprünglichen international anerkannten Festlegung der Staatsgrenzen Israels geschaffen wurden – oder ob damit die Existenz Israels per se in Frage gestellt wird. Weltweit herrscht breite Übereinstimmung, dass Israel den Anspruch auf illegal besetzte Gebiete aufgeben muss, egal, wie diese in Besitz genommen wurden; auch viele israelische Bürger sind davon überzeugt. Die Rechtmäßigkeit ihres Staates – für Israelis eine Frage von Leben und Tod – ist eine andere Angelegenheit.

Ich habe nur zwei Tage auf der Anti-Rassismus-Konferenz verbracht. Aber es war lange genug, um aufgrund der Scharen tausender Menschen die offensichtlichsten Aspekte rassistischer Feindbilder auszumachen: die Unterschiede der Oberfläche, Hautfarbe, Gesichtszüge, Sprache, Kleidung. All das verdeckt eine grundlegende Tatsache, die Rassisten nicht wahrhaben wollen, obwohl sie wissenschaftlich außer Frage steht: die Entschlüsselung der menschlichen Genom-Sequenz hat gezeigt, dass jeder einzelne von uns, ohne irgendeinen in der Natur verankerten Unterschied, aus denselben drei Milliarden DNA-Bausteinen zusammengesetzt ist.

Unter verschieden schattierter Haut und unterschiedlich texturierten Haaren, unter den Turbanen, den Jarmulken, den Talaren, den Afros und den blonden Locken sind wir ein und dasselbe Wesen: der Mensch. Das ist keine moralische Lehre, sondern ein naturwissenschaftlicher Fakt. Rassismus hat keine Basis, die ihn rechtfertigen könnte, und so offenbart er sich als eine Form des Selbsthasses – denn jemanden als minderwertig zu betrachten heißt nichts anderes, als die drei Milliarden Einheiten herabzuwürdigen, aus denen wir alle bestehen. Die Bedeutung all dessen, was in wissenschaftlicher Erkenntnis wurzelt, aber weit darüber hinaus geht, wurde mir klar, als ich in die Gesichter anderer sah, als ich zwischen Körpern gedrängt stand: Dieses riesige Zusammentreffen war die Wirklichkeit, auch wenn die praktischen Beschlüsse für den Kampf gegen den Rassismus Mängel aufweisen mögen. Das Ereignis hatte den Charakter einer Epiphanie; deshalb müssen und werden die Taten folgen, mit denen wir uns von Rassismus reinigen.

Ist die Konferenz durch die furchtbaren Ereignisse vom 11. September in den USA irrelevant geworden? Im Gegenteil – die Nahrung des Monsters Terrorismus, das sich jetzt drohend über die ganze Welt erhebt, ist Rassismus, in all seinen Formen, religiös und weltlich, als Waffe politischen Machtstrebens.