Die Rache der Verängstigten

Das Thema „innere Sicherheit“ hat den Hamburger Wahlkampf beherrscht. Doch ist es nur ein Symbol: Die Schill-Wähler sind Globalisierungskritiker der schweigenden Sorte

Es wäre Aufgabe der SPD wie der CDU, die Modernisierungsverlierer nicht rechts liegen zu lassen

In Hamburg wurde am Sonntagabend eine deutsche Lega Nord geboren. Ihr Anführer heißt Ronald Schill. Seine Organisation, die „Partei rechtsstaatlicher Offensive“, hatte während des Wahlkampfs kein anderes Thema als das der inneren Sicherheit. Der 42-jährige Jurist ist, allen Überlieferungen nach zu urteilen, kein Nazi. Völkische Bekenntnisse sind von ihm nicht einmal in Spurenelementen überliefert, sonst hätte er auch nie und nimmer knapp ein Fünftel der Wählerstimmen erhalten. Vielmehr hat er öfters bekundet, jeder solle nach seiner Façon selig werden; ihm und den Seinen gehe es um Sicherheit (die zu erhöhen sei), um die Polizei (die es zu stärken gelte) und ganz allgemein um Law & Order.

Kurz gesagt: Schill ist eine Art Rudolph Giuliani für Hamburg, ein hanseatisches Pendant zum New Yorker Bürgermeister, der mit dem Programm von „Null Toleranz“ zu gewinnen hoffte und dies auch tat. Selbst Bagatellkriminalität wird verfolgt, denn andernfalls falle eine urbane Zivilisation auseinander.

Schills Erfolg hat viel mit politischen und kulturellen Besonderheiten Hamburgs zu tun, was nicht bedeutet, dass der „Richter Gnadenlos“ nur dort Erfolg haben kann. Einerseits ist die Union in der Stadt viel zu liberal, sagen wir: viel zu wenig zu assoziieren mit einer Politik vom Schlage Edmund Stoibers. Ole von Beust könnte man habituell ebenso gut zu den Liberalen rechnen; er wirkt nicht wie ein Mann, der den politischen Topos von „Recht und Gesetz“ glaubwürdig verkörpert. In der Wahrnehmung vieler: ein Weichei. Andererseits war ebendies auch das Problem der Sozialdemokraten, dass sie nämlich in den vier Jahren der Koalition mit den Grünen immer alternativer wirkten. Wie die Krista Sagers der Stadt verströmte die SPD ein Fluidum sozialpädagogischer Bedenkenträgerheit, was der Partei zwar einen gewissen Modernitätsbonus in den schicken Kreisen eintrug, sie aber zugleich von den Menschen entfremdete, die von Herkunft und Bildung her stets sozialdemokratisch wählten, aber mit der neobildungsbürgerlichen SPD der Jetztzeit nicht mehr klarkamen. Diese Lücke konnte Ronald Schill nutzen. Spektakulär setzte er sich vor zwei Jahren in Szene, als er während eines Prozesses Zuschauer aus dem autonomen Umfeld der „Roten Flora“ mit Beugehaft bestrafte, weil diese sich geweigert hatten, bei der Urteilsverkündung aufzustehen. Das gefiel der Stadt und missfiel nur hartgesottenen Grünalternativen. Mit dieser Geste machte Schill den Unmut öffentlich, den der Mainstream der Stadt wegen der chronischen Hege und Pflege autonomer Projekte (Hafenstraße, Rote Flora) und Protestbewegungen gegen Rassismus schon lange hatte.

Mainstream? Sind das nicht die Menschen aus der Innenstadt? Schöne junge Frauen und Männer, geschmackvolle Individuen, die sich auf „Ciao, Luigi“ beim Italiener verstehen und den Plural von Grappa bilden können? Falsch: Hamburg ist die reichste Stadt Europas und schön vor allem in der metropolen Mitte rund um die Außen- und Binnenalster. Arm und armselig ist Hamburg aber in Vierteln wie Billstedt, Neugraben, Eidelstedt und Jenfeld, wo Menschen wohnen, die sich zu Recht als die kommenden oder aktuellen Verlierer der Modernisierung fühlen dürfen. Sie verfügen über keine exzellenten Schulbildungen und arbeiten auch nicht in Berufen, die ihnen eine gute Zukunft versprechen. Im Gegenteil: Alles ist ihnen unsicher.

Grüne und Sozialdemokraten haben diese Ängste häufig damit zu kontern versucht, indem sie auf die Schere zwischen Kriminalitätsfurcht und Kriminalitätsrate hingewiesen haben. Aber das war immer ein akademisches Argument und kann nie ein politisches sein. Wer das Gefühl hat, im Leben durch die Umstände beschädigt zu werden, wird nicht abstrahieren wollen, etwa nach dem Motto: Meine Sorgen sind gering im Vergleich zum Flüchtlingselend in, sagen wir, Afrika.

Die Schill-Wähler sind in diesem Sinne Globalisierungskritiker der schweigenden Sorte. Menschen, die vielleicht keine hochgesteckten Lebensziele haben und am ehesten zu beschreiben sind mit dem Credo „Keine Experimente“. Es sind keine Nationalsozialisten im verlarvten Zustand, sondern Kleinbürger ohne Ambitionen für Höheres. Sie wollen in die Sechziger- und Siebzigerjahre zurück, weil damals alles so sozialpartnerschaftlich gemütlich war. Eine Sorte von Menschen hassen sie übrigens so sehr wie keine andere: die, sozusagen, offiziellen Globalisierungsgegner, wie sie im Fernsehen aus Genua gezeigt wurden.

Sie nehmen sie als Menschen wahr – das kennt man von den Karrierewegen der Achtundsechziger –, die lauthals protestieren und schließlich als Gebildete und Mobile ihre Nische im globalisierten System finden. Und ebendiese Chance erkennen sie für sich nicht, und können es wohl auch nicht. Sie mögen keine Chaoten aus der Hafenstraße und keine Rote Flora, erst recht nicht die taz: Das sind für sie Bürgerkinder, die – modisch stilbewusst – eine kurze Phase im Leben auf Krawall machen. Sie erwarten von der politischen Elite, dass sie sich künftig weniger um autonome Projekte als vielmehr um ihre Anliegen kümmert. Also ein besseres Bildungssystem, eine ordentlichere Umwelt, ein freundliches Verkehrssystem. Keine Drogenhändler am Hauptbahnhof, kein Mitgefühl mit Migranten, das sich als größer zeigt als jenes mit den Frustrierten und Genervten an den Rändern der schönen Stadt. Sie wollen wieder anschlussfähig werden, können es aber womöglich nicht – und erwarten dann wenigstens, dass sie in einer Stadt leben, die sie nicht ständig ausgrenzt. Und sie möchten einmal mindestens so sehr mit ihren Sorgen im Mittelpunkt des Interesses stehen wie die Szene rund um die Hafenstraße.

Die Schill-Wählersind keine Nationalsozialisten, sondern Kleinbürger ohne Ambitionen

Keine Frage, dass hinter all diesen Ängsten bei den Schill-Wählern Lösungsvorschläge und Utopien zum Vorschein kommen, die eine krasse Neigung zum Drakonischen und Unversöhnlichen haben. Aber es wäre Aufgabe der SPD wie der CDU gewesen, ebendiese Menschen nicht zu „vergessen“, sie in ihrer Borniertheit nicht rechts liegen zu lassen. Wobei außer Frage steht, dass selbst eine polizeilich sicherer gemachte Stadt das größte Problem nicht löst: Wie moderiert man einen Prozess der Globalisierung ohne Verlierer? Und: Eine SPD ohne ihren Otto Schily würde die nächste Bundestagswahl verlieren, eine Union ohne Edmund Stoiber sie nicht gewinnen. Will man verhindern, dass eine deutsche Lega Nord (die faktisch ausländerfeindlich ist) die hiesigen Verhältnisse aufmischt, braucht es viele neue Arbeitsplätze. Und eine Politik der inneren Sicherheit, die zunächst etwas gegen die Ungewissheit symbolisieren kann. Dass sie die Globalisierung nicht aufhält, darf ohne Risiko prognostiziert werden. Angesichts der drohenden Haiderisierung ist es schon ein Erfolg, wenn die Grünen einfach an der Macht bleiben – auch wenn sie selbst keine eigenen Programmpunkte mehr durchbekommen.

JAN FEDDERSEN