Die verheerenden sieben Prozent

Fröhlich winkt der Mann vor dem Hotel, doch auf der Rückbank sinkt er ganz in sich zusammen. Glaubenswirrwarr, Hass, globale Hypnose – im Ernstfall hilft nur positive Energie durch Naturschutz. Eine Expedition ins Taxireich

Ein überraschend sonniger Tag. Ich werde zum Hotel President gerufen. Dort wartet auf der Straße ein älterer, etwas eingesunkener Mann mit leichtem Gepäck. Er begrüßt mich überschwänglich wie einen alten Freund und will zum Flughafen Tegel. „Was für ein wunderbarer Tag“, trällert er. Ich nicke. Ja, wirklich, wunderbar. Im Rückspiegel betrachte ich den Mann näher. Nach seiner fröhlichen Einleitung verstummt er wie vom Schlag getroffen. Zusammengekniffener Mund, die Augen hinter einer tropfenförmigen Sonnenbrille verborgen, wirkt er ängstlich und sentimental.

„Das herbstliche Wetter“, nehme ich den Faden wieder auf, „und die Anschläge auf Amerika fielen ja zusammen, da freut man sich umso mehr, wenn die Sonne wieder scheint.“ Jajaja, pflichtet er mir grummelnd bei. Wieder Schweigen. Ich versuche es noch mal. „Sie sind ja schon ein älteres Semester. Wie ging’s Ihnen denn mit den Anschlägen?“ Jaja, fängt er an und spricht über den Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Irland, mitten in Europa. Er doziert über den globalen Glaubenswirrwarr. Das könnten wir mit unserer Erziehung ja gar nicht nachvollziehen, dass Menschen sich so aufopfern, und natürlich sei da auch viel Geld im Spiel. Er kommt beim Reden in Fahrt und lehnt sich engagiert nach vorne. „Diese Führer arbeiten mit allen Tricks, mit Verführung und Hypnose, um die Leute zur Begeisterung für eine tödliche Sache zu treiben. Und das Schlimmste ist der Hass.“

Die letzten Worte brüllt er fast. Ich frage ihn, ob er sich durch die Terroristen persönlich angegriffen fühlt. Er winkt ab und lehnt sich wieder zurück. „Nein, ich wohne in München, da ist alles ruhig und sicher.“ Dann herrscht wieder Schweigen. Ich will wissen, was ihn nach Berlin geführt hat. In der Urania wurde ihm eine Ehrenmedaille verliehen, nuschelt er, um schnell und deutlich fortzusetzen, dass er dort seit 40 Jahren Vorträge hält – über Expeditionen ins Tierreich. Expeditionen? Ins Tierreich? Ich muss mich kurz sammeln.

„Ach, dann sind Sie womöglich“, ich zögere kurz, „Heinz Sielmann?“ Im gleichen Moment, in dem ich den Namen ausspreche, fährt seine rechte Hand blitzartig in die innere Jackentasche und schnellt umgehend zu mir nach vorne. Darin hält er eine Autogrammkarte. Ein älterer Mann lächelt mich breit und kumpelhaft an. Prof. Heinz Sielmann steht darunter. Er hat gewisse Ähnlichkeit mit meinem Fahrgast. Ich muss kurz an Rudi Carell denken, den ich vor ein paar Wochen gefahren habe. Wir sprachen, außer über das Fahrziel, kein einziges Wort miteinander. Die ganze Zeit überlegte ich, was für eine Frage ich Rudi Carell gern stellen würde. Aber mir fiel keine ein.

Heinz Sielmann brauche ich nach seiner Enttarnung nichts mehr zu fragen. Er blüht auf und verwandelt sich für einen Augenblick in den Mann auf der Autogrammkarte. Naturschutz als positive Lebensphilosophie ist sein Thema. Er wirft mir viele Schlagwörter an den Kopf. Überbevölkerung. Wassermangel. Die Maßlosigkeit des Menschen. Er redet, als wolle er mit seinen Worten Holz hacken. Die allgemeine Lage ist Besorgnis erregend. Aber er vertraut auf die Evolution. Der Mensch wird sich anpassen, um zu überleben. Das klingt beruhigend.

Wir sind am Flughafen angekommen. Eine Frage ist mir noch eingefallen. „Was unterscheidet den Mensch vom Tier?“ Ohne zu zögern, legt er los. „Meine geliebten Berggorillas haben zu 93 Prozent die gleiche genetische Struktur wie wir. Nur hier oben“, er klopft sich an seine hohe Stirn, „sind ein paar Dinge anders.“ „Die Fähigkeit zur Vernunft also?“, frage ich interessiert nach. Aber er antwortet nicht. Heinz Sielmann ist erschöpft. Er freut sich, dass wir gut durch den Verkehr gekommen sind. „Es ist doch schön, pünktlich nach Hause zu kommen.“

Am liebsten würde er aus dem fahrenden Auto steigen und sofort sein Münchner Haus betreten. Beim Bezahlen fängt er plötzlich zu pfeifen an. Es ist ein unbeholfenes, demonstratives Pfeifen. Als wolle er sich selbst beweisen, dass er hauptsächlich ein vergnügter Bursche ist. Wahrscheinlich ist es seine Art, sich auf die Welt da draußen einzustimmen, wo er der lächelnde Mann von der Autogrammkarte zu sein hat. Ich glaube, er hat Angst vor diesem Mann. Er wünscht mir überschwänglich „alles Gute“, als ich ihm das Gepäck in die Hand gebe, und hüpft etwas tapsig davon.

FELIX HERBST