: Können, aber nicht müssen
Die deutschen Bahnradfahrer scheinen trotz Umbruchs in der Mannschaft auch bei der Weltmeisterschaft in Antwerpen ihre Erfolgsgeschichte von Olympia fortschreiben zu können
aus Antwerpen SEBASTIAN MOLL
Den Helden wurden die Augen nicht nur vor Freude feucht. Als der deutsche Bahn-Vierer mit Guido Fulst, Daniel Becke, Robert Bartko und Jens Lehmann nach seiner Weltrekordfahrt in Sydney ganz oben auf dem Siegerpodest stand und der Nationalhymne lauschte, wussten die vier, dass sie wohl zum letzten Mal gemeinsam um die Bahn gejagt waren. Schon bei der Weltmeisterschaft wenige Wochen später fehlte Robert Bartko, die Zugmaschine Nummer eins des Olympia-Express’, Daniel Becke war zwar in Manchester noch dabei, hatte jedoch ebenfalls wie Bartko kurz nach Sydney für die Saison 2001 einen Vertrag als Straßenprofi unterschrieben. Schon deshalb hatte sich Bernd Dittert, der Bundestrainer der Bahnfahrer, für die nacholympische Saison keine allzu hohen Ziele gesteckt. „Einen Bartko und einen Becke kann man nicht innerhalb eines Jahres durch Nachwuchsfahrer ersetzen“, hatte er immer wieder gesagt.
Acht Jahre will sich der Disziplinchef „Bahn-Ausdauer“ im Bund Deutscher Radfahrer (BDR) Zeit lassen, um einen neuen Vierer zu formen, der die Klasse des Erfolgsquartetts von Sydney erreicht. Doch seine Fahrer denken ganz offensichtlich in weniger großzügigen Zeithorizonten. Trotz des Generationswechsels gehören die deutschen Bahnfahrer bei der Weltmeisterschaft in Antwerpen, die am heutigen Mittwoch beginnt, wieder zu den Top-Favoriten: Der deutsche Bahnkader hat gerade den Gesamtweltcup gewonnen, der Weltmeister und Olympiazweite Jens Lehmann gewann beim Weltcup von Stettin seine Spezialdisziplin, die Einerverfolgung – und er führte den neuen Bahnvierer mit den Nachwuchsfahrern Sebastian Siedler, Christian Bach und Andreas Müller zu Siegen über die Ukraine und Großbritannien, die auch in Sydney hinter Deutschland die Medaillen geholt hatten.
„Das hätten wir nie für möglich gehalten“, sagt der 34 Jahre alte Jens Lehmann, zusammen mit Guido Fulst, der in Stettin allerdings nicht dabei war, bei der WM in Antwerpen der Letzte aus der alten Siegertruppe. Doch obwohl Lehmann vom Erfolg der neuen Mannschaft überrascht ist, hat er eine plausible Erklärung für die Stärke der Jungen: „Die wissen, dass in diesem Jahr die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Wer dieses Jahr dabei ist, hat einen dicken Bonus, wenn sich der Fahrerstamm für die nächsten Jahre formiert.“ Deshalb, so Lehmann, hätten Bach, Siedler und Müller, allesamt noch jünger als 23 Jahre, zum Teil beträchtliche Leistungssprünge gemacht.
Zum Erfolg beigetragen hat jedoch auch, dass Lehmann selbst die nacholympische Saison wesentlich konzentrierter angegangen ist, als er das ursprünglich vorhatte. „Eigentlich wollte ich nach zwölf Jahren im Geschäft mal kürzer treten.“ Doch dann bekam er ein Angebot vom Team Nürnberger als Straßenprofi. Mit 33 Jahren die wahrscheinlich letzte Gelegenheit, mit seinem Sport Geld zu verdienen. Zwar sicherte ihm Nürnberger zu, dass er sich auch im Trikot des Versicherungskonzerns weiter auf die Bahn konzentrieren kann. „Ich hätte aber nicht ruhig schlafen können“, sagt Lehmann, „wenn ich nicht auch auf der Straße meine Leistung gebracht hätte.“
So trainierte er noch härter als sonst und erzielte zusammen mit Thomas Liese, mit dem er schon 1989 zusammen im Bahn-Aufgebot der DDR gestanden hatte, einen der größten Erfolge des Team Nürnberger in diesem Jahr: Hinter den Franzosen Christophe Moreau und Florent Brard wurden die beiden beim hocklassig besetzten Paarzeitfahren von Karlsruhe Zweite.
Doch trotz der überraschenden Qualität der neuen Bahn-Mannschaft, der erfolgversprechenden Mischung aus ehrgeizigen jungen Fahrern und starken Routiniers, warnt Lehmann vor allzu hohen Erwartungen in Antwerpen: „Ich würde nie wagen, eine Goldmedaille anzupeilen“, sagt er über seine eigenen Aussichten in der Einzelverfolgung. Derartige Zielsetzungen sind für das Temperament des bescheidenen Arbeiters Lehmann zu überheblich. Gleiches gilt für die Mannschaft: „Den Erfolg von Stettin darf man nicht überbewerten“, alle Nationen, so Lehmann, stellten nach den Olympischen Spielen um und experimentieren nun mit neuen Aufstellungen. Deshalb sei jedes Rennen offen – und jedes Quartett, so wie das deutsche in Stettin, für eine Überraschung gut.
„Ein Medaille ist ein realistisches Ziel“, sagt Lehmann. Und auch Bundestrainer Dittert kann sich mit dieser Zielsetzung anfreunden: „Wir machen uns keinen Druck, gewinnen zu müssen.“ Vielleicht ist gerade dieser Ansatz die Garantie dafür, dass der deutsche Bahnradsport nach dem erfolgreichsten Jahr seiner Geschichte nicht in ein tiefes Loch gefallen ist. Die Bahnfahrer können gewinnen. Sie müssen es aber nicht.
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