Spuren verwischen um jeden Preis

Dieser Tage soll das U-Boot „Kursk“, das vor mehr als einem Jahr in der Barentssee sank, geborgen werden. Die Umstände des Unglücks sind weiter unklar. Die Hinterbliebenen kämpfen um einen Opferstatus und dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt

aus Anapa KLAUS-HELGE DONATH

Sergej war anders als sonst. Nervös und in sich gekehrt, erzählt seine Mutter Nadjeschda Tylik. „Wenn wir dieses verdammte Torpedo erst los sind ...“, soll er gesagt haben. Am Abend vor dem Auslaufen der „Kursk“ schaute Sergej seiner Mutter lange in die Augen, ein stiller Abschied, erinnert sich die Mutter, anders als sonst. Nadjeschda Tylik sah ihren Sohn zum letzten Mal.

Es war der 9. August 2000. Drei Tage später sinkt das Atom U-Boot „Kursk“, auf dem Sergej als erster Navigationsoffizier diente, unter mysteriösen Umständen in der Barentssee. Gestern sollten die Bergungsarbeiten beginnen, verzögerten sich aber wegen schlechten Wetters.

Die russische Flottenführung drückt sich um die Verantwortung. Erst nach Hinweisen westlicher Aufklärer und Stunden nach zwei Detonationen, die den Bug des U-Boots zertrümmert hatten, räumt die Admiralität eine Havarie ein. Zwei Tage später mauern die Verantwortlichen immer noch. „Eisiges Schweigen, keiner sprach mit uns“, sagt Nadjeschda leise.

Vier Tage vergehen, bis Moskau ausländische Rettungsmannschaften zur Unglücksstelle vorlässt. Jede Hilfe kam zu spät, und das war wohl auch beabsichtigt. Die Welt kennt die 44-jährige Mutter. Sie war es, die am 23. August auf einer Versammlung der Hinterbliebenen in dem Marinestützpunkt Widjajewo nahe Murmansk Vizepremier Ilja Klebanow und Militärs vor laufender Kamera in eine peinliche Lage brachte. „Ihr Hundesöhne!“, schrie sie. „Wofür habe ich meinen Sohn großgezogen? Ihr sitzt da, vollgefressen, und wir haben nichts. Jetzt wird mein Sohn in dem stählernen Sarg begraben. Reißt eure Epauletten ab und gebt euch den Schuss, wenn ihr noch Ehre im Leib habt!“

Nadjeschda Tylik ist in dem Jahr seit dem Tod ihres Sohnes alt geworden. Trauer und Gram haben ihr Gesicht verändert. Geblieben sind Wut und ein unbeugsamer Wille: die Wahrheit ans Licht zu holen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn sie davon erzählen kann, geht es ihr besser. „Vielleicht hätte ich sie nicht so anschreien sollen“, meint Nadjeschda heute. „Aber sie haben meinen Sohn auf dem Gewissen.“

Sergej starb zwei Monate vor seinem 25. Geburtstag. Einen Monat verbrachte Nadjeschda nach dem Unglück im Krankenhaus. Danach zogen sie und ihr Mann Nikolai, vor der Rente Kapitän, zurück in ihre Heimatstadt Anapa am Schwarzen Meer. Das feuchtwarme Klima macht der Frau aber zusätzlich zu schaffen, seither leidet sie an Asthma. Das kleine Häuschen in dem Kurort haben die Tyliks als Hinterbliebene eines „Kursk“-Opfers vom Staat gestellt bekommen. Vorher waren sie jahrelang auf Wohnungssuche. „Makaber“, meint Nadjeschda, „wir haben das Dach überm Kopf dem Tod unseres Kindes zu verdanken. Menschenleben zählen nichts, weder in der Armee noch sonstwo.“ Ein Satz wie ein roter Faden. Unschuldige werden zu Opfern, weil Vorgesetzte verantwortungs- und gefühllos handeln. Die Schuldigen werden laufen gelassen, die Opfer zu Helden gemacht. Als sei damit alles wieder im Lot.

Die kämpferische Frau will das nicht mehr hinnehmen. Viele der Hinterbliebenen denken ähnlich, davon konnte sie sich auf der Gedenkveranstaltung im August überzeugen. Aber auch davon: Die Flottenführung hielt es nicht für nötig, sich zu entschuldigen.

Die Nichtachtung hat sie noch einmal sehr verletzt. Was geschehen ist, war ein Verbrechen, meint sie, „und wir wollen als Opfer dieses Verbrechens anerkannt werden“. Einige Mütter und Witwen haben Admiral Kurojedow daher angezeigt. Hoffnung, russische Gerichte könnten den Admiral zur Rechenschaft ziehen, haben die Frauen indes nicht. „Wenn es sein muss, gehen wir bis nach Strassburg“, versichert Nadjeschda, die in der Flotte als Laborantin und Obermatrose gearbeitet hat. Doch sie macht sich keine Illusionen, eines Tages die Wahrheit zu erfahren. „Niemand will die wahren Gründe aufdecken, nicht einmal die russische Presse, die den Fall gleich beiseite gelegt hat ...“

Die Bergungsarbeiten sollen Beweise beseitigen und die beiden Reaktoren sicherstellen, die eine ökologische Katatstrophe auslösen können. „Um unsere Kinder geht es nicht.“ Die „Kursk“ hatte vor dem Auslaufen Gefechtstorpedos vom Typ „Tolstjak“ (Der Dicke) an Bord – Munition, die bei Manövern nicht zugelassen ist.

Nikolai Tylik erinnert sich, der Kommandant der „Kursk“, Gennadij Ljatschin, hätte vor der Übungsfahrt von einem defekten Torpedo gesprochen. Nachts sei er noch zum Boot rausgefahren, um sich danach zu erkundigen. Ausladen konnte man nicht mehr, weil der einzige Kran woanders eingesetzt war. Ljatschin, ein erfahrener Kommandant, stach dennoch in See. Die Lage, vermutet Tylik, muss sich dramatisch verschlechtert und die Mannschaft versucht haben, die tödliche Fracht loszuwerden. Dabei muss der „Tolstjak“ in der ersten Schotte explodiert sein und die Detonation in der Torpedokammer ausgelöst haben.

Ein Himmelfahrtskommando? Tylik zuckt mit den Schultern. Man habe wohl den Kommandanten unter Druck gesetzt: „Egal, ob es dich zerreißt, du musst aufs Meer!“ Neue Helden braucht das Land. Nadjeschda ist schwer krank. In der Zeit, die ihr noch bleibt, will sie den Verantwortlichen überführen und ihm in die Augen schauen.