Leichte Ziele für den Terror

Die Sicherheitsstandards für US-Atomanlagen werden überprüft. Tests zeigen: Jedes zweite AKW ist bei Sabotage wehrlos

von BERNHARD PÖTTER

Die drei Entführer drohten mit der nuklearen Katastophe. Bewaffnet mit Pistolen und einer Handgranate waren sie in das Cockpit der DC 9 auf dem Flug von Memphis nach Miami eingedrungen: Das Flugzeug mit 30 Passagieren kreiste eine Stunde lang über dem Atomversuchslabor Oak Ridge in Tennessee. Ohne Lösegeld „wollten die das Flugzeug auf den Atomreaktor stürzen lassen“, erinnert sich der ehemalige Copilot.

Die Sache ging glimpflich aus. Zwei Millionen Dollar und ein Freiflug nach Havanna brachten die drei amerikanischen Entführer im Jahr 1972 von ihrem Plan ab, in Oak Ridge einen Nuklearunfall zu verursachen. Doch nach den Anschlägen von New York und Washington wächst in den USA die Sorge über Kamikaze-Angriffe auf Atomanlagen. Denn die 103 Atomkraftwerke in den USA, gerade noch von der Bush-Administration als wichtige Energiequelle gepriesen und wegen steigender Gaspreise wieder rentabel, gelten nun als Sicherheitsrisiko. Und bei der Abwehr von Sabotageangriffen haben die Betreiber häufig versagt.

Die US-Atomwirtschaft weiß, wie verwundbar sie ist. Die Atomregulierungsbehörde NRC ordnete noch am 11. September die „höchste Sicherheitsstufe“ für die Atomanlagen an. Vor den AKWs wurden bewaffnete Patrouillen verstärkt, die Kontrollen verschärft und der Verkehr eingeschränkt. Einige Unternehmen regten an, die Notfallpläne für mögliche Computerabstürze beim Jahrtausendwechsel aus der Schublade zu holen.

Standards prüfen

Ähnlich wie die deutschen Behörden musste aber auch die NRC zugeben, die Reaktoren seien „nicht gebaut, um Angriffen wie mit einer Boeing 757 oder 767 standzuhalten“. Attacken aus der Luft habe man nicht in die Sicherheitsplanung einbezogen. Gleichzeitig mit der internationalen Atomenergiebehörde IAEA erklärte die NRC Ende letzter Woche, die Pläne zur Abwehr von Terrorangriffen auf Atomanlagen sollten überprüft und im Zweifel verschärft werden. Dabei hatte die Bush-Administration eigentlich das Gegenteil geplant: Ab Herbst sollen die AKWs von den lästigen Sicherheitschecks durch „Sabotageteams“ der unabhängigen NRC entbunden werden und diese Aufgabe selbst übernehmen: Firmeneigene Teams sollen zeigen, wie gut gesichert die Kraftwerke sind.

Gegen diese Selbstkontrolle hatten US-Atomkritiker seit langem protestiert. Sie sahen sich bestätigt, als die NRC am Freitag zugab, in den Neunzigerjahren seien bei Tests nur knapp die Hälfte der inspizierten 68 Atomkraftwerke wirksam gegen Saboteure gesichert gewesen. In den anderen Fällen drangen die Tester nach Informationen der Los Angeles Times auf das Werksgelände vor und erreichten sensible Areale, obwohl ihre Aktionen angekündigt waren. Das Magazin US News and World Report listet weitere Risiken auf: So würden Angestellte mit krimineller Vergangenheit beschäftigt oder AKWs seien so gebaut, dass kritische Anlagen etwa durch eine Bombe am Außenzaun leicht zu zerstören seien. Bei einem Attentat mit einer Lkw-Bombe sei eine nukleare Katastrophe deshalb möglich, hieß es in einer Anhörung des US-Senats.

Diese Szenarien sind keine Hirngespinste: Seit 1978 gab es laut US News and World Report mindestens 30 Drohungen gegen nukleare Anlagen. In den Achtzigerjahren wurden drei von vier Stromleitungen ins AKW Palo Verde in Arizona gekappt; Im letzten Jahr verurteilte ein Gericht in Florida den Milizionär Donald Beauregard, der mit gestohlenen Waffen das Stromnetz rund um das AKW Crystal River lahmlegen wollte. 1993 raste ein geistig verwirrter Mann mit seinem Auto in das AKW Three Miles Island in Harrisburg und erreichte das Turbinenhaus.

Harrisburg im Visier

Der Unglücksreaktor von Harrisburg, der 1979 durch einen Unfall im Reaktor kurz vor der Kernschmelze gestanden hatte, wurde offenbar 1993 noch einmal massiv gefährdet. Eine Gruppe namens „Liberation Front Fifth Battalion“ drohte nach Informationen der Bürgerinitiative „Three Miles Island Alert“ mit Angriffen unter anderem auf „nukleare Ziele“ durch „150 Selbstmordsoldaten“. Die Autoren bezeichneten sich als Teil der Gruppe, die vier Tage vorher den Bombenanschlag auf das World Trade Center verübt hatte. Drei Wochen vorher waren Unbekannte auf das Gelände des AKWs in Harrisburg eingedrungen. Der Angeklagte Siddig Ibrahim Siddig Ali gab im Prozess gegen die Bombenleger zu, dass eine Gruppe von Terroristen etwa 50 Kilometer vom AKW entfernt ein Ausbildungslager unterhalten und Angriffe auf Kraftwerke geübt habe.

Nach Angaben des atomkritischen Informationsdienstes WISE löste die Nähe des gekaperten Flugzeugs über Pennsylvania am 11. September auch im AKW Harrisburg Alarm aus, obwohl der noch funktionierende Reaktor 2 mit einer Ummantelung ausgerüstet ist, um auch Flugzeugabstürze zu überstehen. Die Sicherung gegen Lkw-Bomben, die ebenfalls aktiviert wurde, versagte: Laut WISE dauerte es drei Stunden, bis die Barrieren aufgerichtet waren. Grund: Für die Bewegung dieser Betonschranke vor dem Nordtor des AKWs fehlte der Strom.