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: HELMUT HÖGE über die Interpretationsmaschine

Ihre Ecken und Kanten

Langsam läuft sich die Interpretationsmaschine in puncto World-Trade-Center-Attentat leer (und keiner redet über das Pentagon – das war wohl schon ein gestriges Ziel). Wir sind inzwischen bereits bei der Interpretation der Interpretationen des WTC-Ereignisses angelangt. Und ich kenne mich inzwischen in Afghanistan besser aus als in Bremen, wo ich herkomme. Von jedem Afghanen, der auch nur über eine Hand voll Leute verfügen kann, kenne ich mindestens den Vornamen.

Das ging mir damals schon mit dem Mekong-Delta so, nur damals wurde mir das nicht von Staats wegen über die geballten Kapitalmedien reingedrückt, sondern wir selbst versuchten es, in diese Schweinezeitungen zu pushen – indem wir eine „Gegenöffentlichkeit“ über das, was im Mekong-Delta „wirklich“ vor sich ging, herstellten.

Genauso verhielt es sich damals mit der Rockmusik – der sozusagen gefühlsmäßigen Seite dieser ganzen Aufklärungs- und Widerstandsgeschichte. Noch in den 70ern mussten z. B. die GIs bei einer Offziersinspektion alle ihre Frank-Zappa-Platten verstecken, weil sie verboten waren. Heute ist der ganze Äther voller Schweinesender, die ununterbrochen Rock dudeln und dazu üble Werbung verbreiten. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die meisten WTC-Attentats-Interpreten an der doppelten und dreifachen Medialität dieses Topevents anhakten, zumal selbst die Konfliktforscher (wie die früheren Konfliktemacher jetzt heißen) inzwischen von der Sozial- zur Kultur- bzw. Medienanalyse fortgeschritten sind.

Ich erinnere demgegenüber noch einmal an Heiner Müllers vorletzten Seufzer, der genauso gut auch von den preußischen Volkskriegs-Propagandisten um den Freiherrn vom Stein hätte stammen können: „Erst seit der Vereinigung ist in Deutschland wieder Klassenkampf möglich“ – und mit der Globalisierung auch wieder überall und nirgends, möchte man hinzufügen. Denn wir haben es seitdem auch weltweit mit einer „Restaurationsphase“ zu tun – in der rasche wirtschaftliche Konzentrations- und Umverteilungsprozesse mit sich überstürzenden Sicherheits- und Überwachungswünschen – bis hin zu pogromartigen Entmischungen – einhergehen.

Paul Virilio datiert den Beginn eines neuen, „großen Terrorismus“ auf das Jahr 1993 – da das WTC zum ersten Mal bombardiert wurde. Man muss jedoch keinen Zusammenhang zwischen diesem „terreur“, sei er nun neuer oder alter „Qualität“, und dem ewigen, in der Quantität aber doch wohl zunehmenden Unmut der arbeitslosen und lohngedrückten bzw. zur Emigration gezwungenen Massen weltweit konstruieren. Es geht eher darum, des ungeachtet wieder die Arbeit, die Produktion in den Blick zu bekommen.

Dies war schon explizit der Anspruch von Barbara Ehrenreich – bei der Recherche zu ihrem soeben auch auf Deutsch erschienenen Buch „Arbeit poor“. Wenn die fröhliche Unbekümmertheit der Dienstleistungsgesellschaft einer Konzentration auf das Wesentliche weichen würde, dann wäre trotz der ganzen Interpretationsmaschine, die bisher zumeist auf Staats-Beratung bzw. -Politik abzielte, doch etwas gewonnen. Dies ist jedenfalls die Meinung eines Großteils der linken Interpreten weltweit. Auch für sie gilt jedoch noch die Warnung des Foucault-Assistenten Ewald: „Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten. Die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit.“ Das meint: Der Hinweis auf den sozialen Sprengstoff dahinter enthebt einen nicht der Spuren-Entsicherung.