Akteneinsicht über alle Grenzen

In den Bereichen organisierte Kriminalität, Umweltdelikte, Geldwäsche und bei Betrugsversuchen, die die EU-Kasse schädigen, soll Eurojust zuständig sein

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Was die Innen- und Justizminister der Europäischen Union bei ihrem heutigen Routinetreffen unter dem Tagesordnungspunkt „Europol“ vor sich liegen haben, nennt sich im Konferenzjargon „shopping list“. Die Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten haben ihre Wünsche und Forderungen aufgeschrieben, ohne eine Reihenfolge festzulegen.

Der direkte Zugriff von Europol auf die im Schengener Informationssystem gespeicherten Personendaten soll besprochen werden, die Zusammenarbeit mit der neu geschaffenen Behörde Eurojust und die Datenschutzprobleme, die dabei entstehen können.

Wie bei jeder normalen Einkaufsliste stehen die Dinge unsortiert nebeneinander. Manches wird seit Monaten von einem Einkauf zum nächsten verschoben, manches ist längst gekauft und aus Schlamperei noch nicht von der Liste gestrichen.

Vor einer Woche hatten sich die Minister aus aktuellem Anlass zu einer Sondersitzung getroffen. Der durch die Terroranschläge in New York und Washington entstandene Handlungsdruck bewirkte, dass sie ein ungekanntes Tempo vorlegten und zu Kompromissen bereit schienen. Wenn jetzt auf der „shopping list“ Themen wieder auftauchen, die letzten Donnerstag schon abgehakt waren, dann mag es tatsächlich daran liegen, dass die Ständigen Vertreter der Mitgliedsländer die Einkaufsliste schlampig geführt haben.

37-Punkte-Katalog

Möglich ist aber auch, dass über vieles noch einmal gesprochen werden muss, weil nicht alle Länder an konkrete Maßnahmen denken, wenn sie sich zu mehr Transparenz, Kooperation und kurzen Dienstwegen verpflichten. So fühlten sich schon letzte Woche Beobachter zu der Frage herausgefordert, ob der stolz präsentierte 37-Punkte-Katalog nicht zum großen Teil aus Dingen bestehe, die – guten Willen vorausgesetzt – schon jetzt in zwischenstaatlicher Zusammenarbeit juristisch möglich wären. Bei der Tagesordnung für das Treffen heute stellt sich diese Frage wieder neu.

Immerhin scheint es mit Eurojust, der lange geforderten ersten Stufe einer europäischen Staatsanwaltschaft, jetzt Ernst zu werden. Die Minister sind sich einig, dass von jedem Land ein Mitglied und ein Stellvertreter entsandt werden soll. Aus Deutschland wird ein Jurist aus der Bundesanwaltschaft regelmäßig mit am Tisch sitzen. Ein Staatsanwalt aus Nordrhein-Westfalen soll sein Stellvertreter werden. In den Bereichen organisierte Kriminalität, Computerkriminalität, Umweltdelikte, Geldwäsche und bei Betrugsversuchen, die die EU-Kasse schädigen, soll Eurojust zuständig sein. Seine Rolle wird darin bestehen, die Arbeit zwischen EU-Ebene und nationalen Ermittlungen zu koordinieren und die Zusammenarbeit nationaler Behörden zu erleichtern. Eurojust kann auch selber Ermittlungen anstoßen. Folgt die zuständige Behörde des Mitgliedslands der Anregung nicht, muss sie eine Begründung liefern.

Die kritische Frage, ob eine zusätzliche Koordinationsstelle die Kommunikation zwischen zwei nationalen Behörden nicht eher behindere, statt sie zu beschleunigen, kontern Experten mit dem Hinweis, Eurojust sei mehr als ein fachjuristisches Übersetzungsbüro. Es werde mit eigener „Rechtspersönlichkeit“ ausgestattet. Der jeweilige nationale Vertreter erhalte die gleiche Akteneinsicht wie seine Kollegen im Land selber und könne sein Wissen an die anderen Eurojust-Mitglieder weitergeben – wenn er mögliche Geheimhaltungsvorschriften beachte.

Ob die Informationen dann besser fließen, ist nicht ausgemacht. Bei Fachkonferenzen der Ermittler werden seit Jahren die gleichen Klagen laut: Mentalität und juristische Tradition in den einzelnen Ländern seien zu unterschiedlich, Qualität und Menge der gesammelten Informationen von Land zu Land verschieden und daher nicht problemlos kombinierbar. Europol-Chef Jürgen Storbek, der am heutigen Treffen teilnimmt, hat das in vielen Interviews beklagt.

Neue Eigendynamik

Wenn allerdings Staatsanwälte, die in ihren Herkunftsländern weit oben in der Hierarchie angesiedelt sind, unterschiedliche Rechtstraditionen an einem Tisch versammeln, könnte das den einheitlichen europäischen Rechtsraum voranbringen. Bis zum Fachministerrat am 6./7. Dezember sollen die noch strittigen Punkte geklärt sein: Welche Rolle spielt Eurojust bei Fällen, die ein Mitgliedsland und einen Drittstaat betreffen, welche Mitspracherechte erhält die EU-Kommission bei der Arbeit der neuen Behörde, wie soll sie mit Europol und der europäischen Betrugsbekämpfungsabteilung OLAF zusammenarbeiten und – die stets am heißesten diskutierte Frage: Wo soll das neue Amt seinen Sitz haben. Im Fall von Eurojust steht Brüssel, Den Haag oder Luxemburg zur Diskussion.

Für die osteuropäischen Kandidatenländer ist der „Drive“, den die Terrorakte erzeugt haben, ein zweischneidiges Schwert. Einerseits können sie damit rechnen, dass ihre Ermittlungsbehörden und juristischen Verwaltungen nicht ganz so kritisch benotet werden, wie es in normalen Zeiten der Fall wäre. Andererseits ist im jetzigen EU-Rechtsraum eine Eigendynamik entstanden, mit der die neuen Mitglieder nicht Schritt halten können.