Wie im Augenblick erfunden

■ András Schiff beglückte Bremen exklusiv mit Werken von Beethoven

Fein: die Konzertkonzeptionen des ungarischen Pianisten Andrs Schiff zählen zu den rar gewordenen Veranstaltungen im Musikfest, an denen man entgegen allen Events noch die Mühe und die entsprechende Planung um ein Konzept erkennen kann, das rein inhaltlich begründet ist. So hatten Schiff, die Geigerin Yuuko Shiokawa und der Cellist Mikls Perényi im vergangenen Jahr selten oder nie zu hörende Kammermusik von Mozart an drei Abenden präsentiert.

Die Erinnerung an dieses Ereignis – nicht zu viel gesagt! – mag mit dafür verantwortlich sein, dass jetzt an zwei Abenden mit Kammermusik von Beethoven die Obere Rathaushalle restlos ausverkauft war. Über diesen Raum ist Schiff etwas anderer Meinung als ich, er hatte letztes Jahr im Interview gesagt, dass er „ein Traum“ sei. Dass man in seinem Fall ihm ein bisschen Recht geben muss, gibt vielleicht Auskunft darüber, mit welcher unvergleichlichen Intensität der in Florenz lebende Pianist und seine PartnerInnen am Werk sind.

Es ist schwer zu sagen, was dieses kammermusikalische Spiel so einzigartig, ich wage zu sagen sensationell macht: es ist eine unendliche Differenzierung der musikalischen Gestalten, aus jeder machen die drei intensivste rhetorische Gesten, voller Überraschungen. Sogar die vielen „Tonleitern“ in der „Frühlings-Sonate“ für Violine und Klavier werden mit einer zielgerichteten Richtungsgeste ausgestattet, jede Note, jedes kleine Motiv provoziert die Neugier auf das nächste. Wunderbar, mit welcher Zurückhaltung und Perfektion diese drei Ausnahmespieler in der Lage sind, ihre eigene Originalität den Gesetzen der gemeinsamen Kammermusik unterzuordnen.

Im einzelnen besticht Perényi durch eine sprachähnliche und ungemein differenzierte Wärme des Tones, Shiokawa durch eine schlackenlose Vibratolosigkeit, bei der man bei ihren fast nicht mehr zu hörenden Pianotönen nicht selten den Atem anhält. Gleichwohl bleibt zu sagen, dass ihr die am zweiten Abend mit stiller innerer Leuchtkraft gespielte „Frühlings-Sonate“, eins der Herzstücke jeden Geigers, besser zu liegen schien als die Sonate in G-Dur, op. 96. Im gemeinsam gespielten „Erzherzog-Trio“ op. 97 mündeten äußerste Klarheit, stets nach vorne ziehende Energie und artikulatorische Feinheit in einen spannungsvollen Bogen, der auch nach zweieinhalb Stunden keine Sekunde nachließ.

Und Andrs Schiff alleine? Er beglückte uns diesmal mit der Sonate, die „nach Umfang und Anlage über alles hinausgeht, was auf dem Gebiet der Sonatenkomposition jemals gewagt und bewältigt wurde“, wie es der Pianist Alfred Brendel ausgedrückt hat. Entweder man braucht viel Platz für den Versuch, Schiffs Interpretation auch verbal gerecht zu werden, oder man muss sich mit Konzentraten begnügen. Jede Interpretation der Hammerklavier-Sonate kann nur Annäherung sein, und so läßt Schiff die exzentrischen Dimensionen unverschleiert explodieren, türmt die bizarr-verzahnte Zerklüftung des späten Beethoven auf, der als Ziel der Kunst eine immer neue Originalität gefordert hat. Dies gilt auch für die Sonate Es-Dur, op. 27, Nr 1, deren Untertitel „Quasi una fantasia“ schon sagt, wie hier die traditinelle Sonatenhauptsatzform von Beethoven zerschossen und verlassen wird.

Es charakterisiert den Stil von Schiff besonders, diese formalen Überraschungen in einer Weise – und da kann ich mich nur wiederholen – herauszukatapultieren, als seien sie in diesem Augenblick erfunden. Schiff, dessen interpretatorische Arbeit sich nie mit einzeln gespielter Literatur begnügt, sondern immer nach der ganzen Persönlichkeit eines Komponisten sucht, könnte doch vielleicht nächstes Jahr nach Mozart und Beethoven einen Zyklus mit Werken von Franz Schubert spielen? Das wäre doch toll, und danach vielleicht Brahms? Stehende Ovationen – zu Recht. Ute Schalz-Laurenze