wir lassen lesen
: Wie der Fußball seine Unschuld verlor

Chronique scandaleuse

Der Fußball hat seine Seele verloren. Passé die Ära der Fritz Walters und Sepp Herbergers, denen man den Fußball noch als glaubwürdiges Produkt abkaufen konnte. Die noch ehrlich spielten und aus Spaß an der Freud. Die nicht beim erstbesten Angebot jenseits der Pyrenäen und Alpen den verlockenden Peseten und Lire hinterherliefen, sondern sich wacker an die erdverbundene D-Mark und den deutschen Amateurparagrafen hielten. Doch diese selige Zeit der fußballerischen Sozialromantik ist Vergangenheit.

Heute regiert die Gier, alle Moral ist dahin. Die Spitze dieses erschütternden Werteverfalls: Die von den Sportmedien hochgejazzte Chronique scandaleuse um einen koksenden Bundestrainer in spe, der es so immerhin in die Tagesschau gebracht hat. Und doch war das nur ein kleines Stück in dem riesigen Puzzle des modernen Kommerzes. Denn umfassen heute nicht mächtige Mogule wie der Münchner Filmhändler Leo Kirch krakengleich das deutsche Kulturgut, indem sie einen medialen Massenwahn schüren? Natürlich muss das Geschehen auf dem Rasen so zur Nebensache geraten. Eine sich bereits vor gut 50 Jahren abzeichnende Entwicklung, damals indes noch auf einem anderen Felde: „Seit der Identitätsfindung von Bern 1954, jenem 3:2 über Ungarns Wunderteam, dem Moment kollektiver Entnazifizierung der Nation vor den Augen der Welt, hat sich das Rasenspiel zur Weltanschauung entwickelt – eine, in der Sport und Spaß immer bedeutungsloser werden.“

In diesem polemischen, aber immer flüssig zu lesenden Stil ist das Buch „Die Spielmacher“ verfasst, das den deutschen Fußball analysiert. Es ist nicht zuviel hineininterpretiert, wenn die Autoren von der Süddeutschen Zeitung in dem magischen Dreieck Fußball, Medien und Wirtschaft eine einzigartige Konspiration erblicken, die nur ein Ziel im Auge hat: Geld zu verdienen, egal, was der Fan dazu sagt. Zugegeben, das klingt ein wenig übertrieben. Aber es gibt ja auch allerhand Indizien, die Stoff für Verschwörungstheorien liefern.

Das fraglos spannendste Kapitel behandelt die von merkwürdigen Umständen begleitete Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 an den Deutschen Fußball-Bund. Dass dieser Abschnitt mit „Der Triumph der Deutschland AG“ überschrieben ist, hat seinen Grund. Schließlich häuften sich vor der Entscheidung Joint Ventures zwischen deutschen Konzernen (Bayer, DaimlerChrysler) und Firmen aus Ländern, in denen – wie es der Zufall wollte – genau diejenigen Mitglieder der Fifa-Exekutive saßen, die dann für Deutschland stimmten. Dass einige dieser Personen davon profitierten, gehorchte – so die Autoren – jedenfalls nicht dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit. Also hat die Titanic doch nicht die WM klar gemacht, als sie den tattrigen Neuseeländer Jack Dempsey mit verlockenden Schwarzwälder Kuckucksuhren schmieren wollte. Eine Mär, aber eine in der Tat liebenswürdige.

Schön zu lesen ist auch der historische Abschnitt, der nicht nur mit netten Anekdoten aufwartet, sondern – etwa am Beispiel der WM 1974 – den immer unlösbareren Konflikt zwischen abgezockten Profis und dem anachronistischen Gebilde Fußballbund schildert; Beckenbauer schrieb in dem autobiografischen Literaturklassiker „Einer wie ich“, die DFB-Leute seien „als Amateure fehl am Platz“, wenn es darum gehe, finanzielle Dinge auszuhandeln. Beckenbauer war da längst gefangen in seiner bunten Werbewelt aus Knorr-Würfeln und Handyknochen.

Auch die historische Auseinandersetzung mit den Intrigen des Weltsportpolitik wird nicht ausgelassen. Die Autoren entlarven den Adidas-Chef Horst Dassler als Treibriemen des Kommerzes. Mittendrin in dieser Herzogenauracher Schlangengrube: das Tauberbischofsheimer IOC-Mitglied Thomas Bach, dessen sportpolitische Kunstwerke angeblich der Dassler’schen Funktionärsschule entspringen. Nicht zu vergessen Fedor Radman, seinerzeit Dassler-Intimus. Radman soll der wichtigste Kulissenschieber bei der erfolgreichen Bewerbung zur Fußball-WM 2006 gewesen sein.

Jedoch ist es nicht einzusehen, warum man viele Sachverhalte noch einmal lesen muss, denn einiges stand – in nur umgedrechselter Form – bereits in dem 1998 erschienen „Milliardenspiel“, das man ebenfalls als Entlarvungsbuch deklarieren darf. Auch dieses Buch wird nicht das letzte sein, das die Journalisten der Süddeutschen schreiben. Denn der Fußball, seine Funktionäre und nicht zuletzt die Medien werden garantiert weitere Geschichten liefern, die Publikationen dieser Art provozieren. Auch wenn der Fußball seine Seele verloren hat. ERIK EGGERS

Martin Hägele/Thomas Kistner/Ludger Schulze: „Die Spielmacher. Strippenzieher und Profiteure im deutschen Fußball“. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart/München 2001, 39,80 DM