Ein Haus am Meer

Erbschaft aus einer Zeit, irgendwo zwischen Romantik und Sozialismus: Wie man eine Landkate fit macht. Eine Kurzgeschichte

von CARSTEN KOZIOLEK

Kein gutes Wetter um an die See zu fahren. Was kann man schon erleben im November an der See? Egal, wir fuhren los. Der 15 Jahre alte Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Konrads anfängliches Erstaunen über den guten Zustand der alten Mühle schlug sehr schnell in ein apathisches Starren aus dem Fenster um. Die vorbeirauschende Landschaft hatte aufgrund der Jahreszeit nicht viel zu bieten. Graue Felder gespickt mit einzelnen Baumskeletten, nicht mehr und nicht weniger bekamen wir zu sehen. Ich versuchte ein Gespräch anzufangen. „Pruchten, wo liegt das eigentlich?“ Konrad bemühte sich kaum, ganze Sätze zu sprechen. „Bei Prerow.“

Damit sollte ich wohl zufrieden sein. Ich fuhr also weiter der Ostsee entgegen. Die Landstraße Richtung Darß war schmal und kurvig. Den Straßenrand säumten verdächtig viele Kreuze. Eine Freundin hatte mir mal erzählt, dass es eine neue Krankheit gäbe, die mit Morbus anfängt und mit Brandenburg aufhört. Diese durch Hormone und zu viel Jägermeister ausgelöste Erkrankung hatte hier offensichtlich erbarmungslos zugeschlagen.

Konrad schien das wenig zu beeindrucken. Er gab knappe Anweisungen, anscheinend konnte er es kaum erwarten anzukommen. Pruchten, wir waren da, ich sollte bremsen und in die Teerstraße einbiegen. Links der Straße eine weitläufige Weidelandschaft, an die sich am Horizont ein Kiefernwald anschloss, rechts ein paar Häuser umsäumt von Jägerzäunen, einer schöner als der andere, keine Menschen weit und breit. Die Luft war feucht, leichter Nebel über den Wiesen. Keine Spur vom Meer. Ich sollte noch hundert Meter fahren und dann in einen Feldweg einbiegen. Vor uns tauchte eine Fischerkate mit einigen Nebengebäuden auf. Wo waren wir gelandet?

„Das ist es!“, sagte Konrad. Irgendein verkappter Nadelbaumfetischist hatte etliche Gehölze auf dem Areal gepflanzt und sie nach seinem Bilde mit der Heckenschere zurechtgestutzt. Befremdet schaute ich mich um. Romantische Lage . . ., guter Zustand . . . und andere Satzfetzen schwirrten durch den Kopf. Langsam entglitten mir die Gesichtszüge. „Das soll das Sommerhaus deiner Mutter sein?“ Ich konnte nicht glauben, dass sie sich so etwas hat andrehen lassen: eine zweihundert Jahre alte Hütte, nur noch von der Fassadenfarbe zusammengehalten.

Wir öffneten die Tür und kamen in vielleicht zwei Meter hohe Räumlichkeiten. Das Haus war leer. Es gab vier Zimmer, ein Klo und eine Küche, in der wir uns ducken mussten. Wir schauten uns um, ich klopfte mal gegen die eine, mal gegen die andere Wand. Ein wenig Lehm rieselte zu Boden. Es rocht nach alter Frau. „Wer hat hier vorher gelebt?“, fragte ich Konrad. „Eine Hexe!“, entgegnete er genervt. „Sie ist hier jämmerlich krepiert in dieser Ödnis. Zwei Wochen soll man sie nicht vermisst haben, erst der Schornsteinfeger hat sie entdeckt, er wollte doch nur nach dem Ofen schauen, stand im Protokoll.“

Ich war zu weit gegangen. Mein Herumstochern in den morschen Wänden machte ihn richtig wütend. „Nimm es einfach hin, wie es ist, ich komme auch allein wieder nach Berlin.“ Schweigend führten wir unsere Erkundungstour durch das nur knapp 2,10 Meter hohe Gemäuer durch. Wenn wir uns streckten, kamen wir ohne Mühe mit unseren Köpfen an die Decke. Die Vorbesitzerin hatte wahrscheinlich aus diesem Grund vorsorglich die ganze Decke mit gemusterten Styroporplatten bekleben lassen. Welcher Gast über 1,80 Meter kommt schon gern wieder in ein Haus, in dem man sich ständig den Kopf aufschrammt.

Leicht geduckt ging es durch die noch niedrigere Küche in den Garten. Die Nebengebäude weckten nur schwerlich unser Interesse. Eines war jedenfalls klar, sie dienten der Einquartierung von zahlungskräftigen Werktätigen, die hier, mangels Alternativen, jedes Jahr zahlreich erschienen. Von der Werkbank direkt in irgendeinen ausgebauten Hühnerstall an der See. Nun aber stand der Hühnerstall seit ungefähr zehn Jahren leer und genauso sah er auch aus.

Es dämmerte. Konrad ging zum Auto und holte eine Flasche Kräuterschnaps. Ich rückte einen Klapptisch und zwei Obstkisten zurecht, draußen war es mittlerweile stockfinster. Wir köpften die Flasche Mümmelmann und drehten uns diese landesgemäß schweigend und in großen Zügen ein. Es folgte Klogang und komatöser Schlaf beiderseits. Der Morgen brachte Gliederschmerzen mit sich. Die Thermoschlafsäcke der Marke „Himalaja“ funktionieren scheinbar nur in einer Höhe von 4.500 Metern, dachte ich und pellte mich aus meiner Umhüllung.

Die Sonne schien in unser Zimmer und es war still. Erschreckend still für zwei Städter, keine Autos, keine Straßenbahn, nur ein leichtes Rauschen, das der Seewind in den Koniferen erzeugte. Der Rest der Kaffeeration, noch übrig von der Hinfahrt, öffnete uns die Augen. Das Bild, das sich uns bot, hatte sich seit unserer Ankunft nicht verändert. Konrad fing auf einmal laut an zu lachen und ich boxte ihm vertrauensvoll auf seinen Oberarm. Das erdrückende Schweigen war gebrochen. Wir liefen gemeinsam durch alle Räume des Hauses, und ich fabulierte darüber, was sich alles machen ließe. Tapete runter, Deckenplatten ab, Linoleum entfernen und Fachwerk freilegen. Boden schleifen und Ökosiegel, Wand rausreißen und Tür verbreitern, Balken schleifen und Rigipswand, neu verputzen und Farbe ran. Meine bescheidene Heimwerkererfahrung klang so, als hätte ich diese Tätigkeiten schon hundert Mal verrichtet. Nur keine Schwäche zeigen, dachte ich mir.

Ich merkte, wie Konrad langsam den Köder schluckte. Bald stimmte auch er in meinen euphorischen Singsang ein. Schließlich spielte er vor seinem Medizinstudium einmal mit dem Gedanken, Innenarchitekt zu werden. In unserem Eifer übersahen wir völlig, dass diese Vorhaben Zeit beanspruchten. Da wir aber eben diese damit verbrachten, den Menschen aus verschiedenen Perspektiven zu studieren, hatten wir ein Problem. Mal eben in drei Tagen dieses Haus renovieren – keine Chance! Wenn man auch nur eine Kleinigkeit verändern würde, es hätte fatale Folgen. Dieses Haus blieb nahezu zwei Jahrhunderte unangetastet, mal abgesehen von den familienbedingten An- und Umbauten. Die neue Zeit brachte dann Plastisolierglasfenster mit Plastrollläden, nicht zu vergessen die Hochsicherheitseingangstür und die moderne Ölheizanlage. Der gelbe Kachelofen blieb stehen. Wahrscheinlich zollte man mit dieser barmherzigen Geste der alten Dame Respekt. Sie war die letzte Vertreterin der ehemaligen Besitzer. So eine Heizungsanlage, die nicht einmal qualmt, kann ihr nur Angst eingejagt haben.

Es klingelte. Wir erwarteten niemanden. Konrad öffnete vorsichtig die Tür und ein Mann trat in das Haus. „Tag, Muuß mein Name. Ich wollte mal nach dem Rechten sehen.“ Konrad erinnerte sich an die Worte seiner Mutter: „Bloß nett zu Herrn Muuß sein.“ Herr Muuß ist der Stammhalter der in diesem Landstrich hoch angesehenen Familie Muuß, der Sohn der letzten Besitzerin. Wir schlenderten langsam durch das Haus, immer die mitleidvollen Blicke unseres Gastes vor Augen. Wir kamen trotzdem schnell mit ihm ins Gespräch. Mehrere Generationen lebten zusammen mit Hühnern und anderem Vieh unter dem Reetdach. Jeder Sohn mit Frau und Kindern bekam ungefähr zwölf Quadratmeter Hausanteil, wobei der Urgroßvater mit noch weniger vorlieb nahm, da er die meiste Zeit beim Vieh verbrachte. Bei unseren Erkundungen machte uns eine in den Hausboden eingelassene Kellernische besonders stutzig. Wilde Spekulationen kreisten durch den Raum. Was dort wohl gelagert wurde?

Herr Muuß, wie wir erfuhren, ein angesehener Handwerker und Besitzer großer Ländereien vor Ort, brachte Licht in dieses dunkle Verlies. Er sprach in Rätseln, faselte irgendwas von illegal und gewinnbringend und fragte im gleichen Atemzug nach einem Bier. Wir tranken also das obligatorische Begrüßungsbier, und eines wurde uns im Verlauf des Gesprächs klar: Familie Muuß war maßgeblich für die flächendeckende Versorgung mit einem landestypischen Genussmittel verantwortlich. „Ihr müsst doch nich denken, dass in diesem Verlies Kartoffeln gelagert worden sind. Von nix kommt nix!“, lallte Herr Muuß und blickte sich in der Manier eines alten Gutsherrn um und schob sich dabei seine Helmut-Schmidt-Mütze in den Nacken. Nun gut, jetzt wussten wir also Bescheid. Konrads Mutter hatte die Niederlassung einer alten Schwarzbrennerdynastie erworben.

Konrad und ich sahen uns an und hatten dieselben Gedanken. Das Haus sollte in neuem Glanz erstrahlen, auch wenn Herr Muuß nachhaltig versicherte, wirklich nur die neuen Fenster, das Grundstück und die Ölheizung verkauft zu haben. Den Rest gab es praktisch gratis dazu. Gut gemeinte Ratschläge, Tipps und Heimwerkererfahrungen machten die Runde. Sehr beliebt waren Satzanfänge wie „Da braucht man doch einfach nur mal . . .“ und „Im Baumarkt, da gibt’s doch . . .“

Herr Muuß, in seiner Wortwahl nicht so innovativ wie wir, begann seine Sätze eigentlich immer mit „Da geht man beiii . . .“, was dann folgte, war eine Mischung aus Improvisationstipps und „. . . da kenn ich einen, der das günstig kann . . .“ Wir hatten das unbestimmte Gefühl, in Herrn Muuß einen kritischen Verbündeten gefunden zu haben. Er konnte seine Verantwortung nicht leugnen und witterte sicher auch die eine oder andere Mark, die es hier als erfahrener Handwerksmeister zu verdienen gab. Nun, fast anderthalb Jahre nach unserem ersten Besuch, hatte sich in der ehemaligen Destille viel verändert. Nach etlichen Arbeitswochenenden und Kurzurlauben entglitten selbst Herrn Muuß, der dem Haus in seiner alten Form nicht die leiseste Chance gegeben hatte, die nordisch-kühlen Gesichtszüge.

Wir lernten jeden Balken, jede Diele, jedes Staubkorn und jede waghalsig verlegte Stromleitung kennen. Schwierigkeiten bereitete uns vor allem die Improvisationsgabe der früheren Bewohner. Da wurde ein Heizungsrohr auch schon einmal mit Strippe festgebunden und die Lücken zwischen den Fachwerkbalken mit alten Unterhosen gefüllt. Entmutigen ließ sich davon aber niemand. Nachdem der alte Fußboden von Farbe und Linoleum befreit, die Wände neu verputzt, die Decke gespachtelt war, wurde Konrad immer wagemutiger. Eine Wand sollte gemauert werden, um das Wohnzimmer vom Schlafraum zu trennen. Konrad, der angehende Arzt, wuchs über sich hinaus. Bisher nur damit beschäftigt, irgendwelche inneren Körperprozesse zu begreifen und diese in wahnwitzigen Prüfungen darzubieten, hier konnte er jene Prozesse am eigenen Leib erfahren. Schweißüberströmt setzte er einen Stein auf den anderen. Als Bauzeichnung diente das Bild, das er in seiner Vorstellung für eine Mauer hielt, meine Ratschläge lehnte er dankend ab. Heraus kam eine Mauer, ja wirklich, nicht ganz gerade zwar, aber wen interessiert das schon in einem Haus, das scheinbar ohne rechten Winkel gebaut wurde.