So weit die Füße tragen

Jahrelang machte der Tschad nur Schlagzeilen durch Krieg und Krisen, erst seit kurzem ist die Einreise für Touristen möglich. „Der Weg zur Macht führt durch die Paläste, der zum Reichtum durch die Basare. Der Weg zur Weisheit“, so ein arabisches Sprichwort, „führt durch die Wüste“: das Ennedi-Gebirge

Stunde um Stunde stapfen wir durch atemberaubende Kulisse, ruhen uns in Höhlen aus, deren Felsmalereien von Zeiten erzählen, als die Ufer des Tschad-Sees bis in den Norden reichten

von PHILIP STÜDEMANN

„Aperetivo!“ – verheißungsvoll schallt der Ruf von Pepe durch unser abendliches Lager am Fuße des Ennedi-Gebirges im Norden des Tschad. Die steil aufragenden Felsmassen interpretieren die Farbe Orange tausendfach im letzten Licht. „Im nordwestlichen Landesteil des Tschad ist die Lage nicht sicher. Der Aufstand im Tibesti hat größere Ausmaße angenommen. Auch wegen der damit zusammenhängenden militärischen Operationen sind Reisen im nördlichen Tschad (außer Provinz Ennedi) mit erheblichen Gefahren verbunden und daher unbedingt zu unterlassen“, schreibt das Auswärtige Amt.

Wir sind nahe dran am Krisengebiet. Chalouba war für uns der letzte Außenposten der Zivilisation, dort hatten wir die Jeeps und die Kanister noch einmal vollgetankt, die Wasserreserven aufgefüllt. In der Dorfmitte ein Brunnen, an dem ein paar Esel ihre Ohren hängen ließen, vielleicht zwei Dutzend Verkaufsstände mit Stoffen, Tee, Dosentomaten und Plastik-Nippes Made in China. Und natürlich die Polizeistation, bei der wir uns melden mussten: ein fensterloses, flaches Gebäude aus groben Quadern, bewacht von ein paar gelangweilten Rekruten. In der Tat hatte uns der Ort standesgemäß empfangen und ebenso wieder verabschiedet: mit je einer zerschossenen Kaserne und ausgebranntem Militärmüll, hauptsächlich Panzern und Transportern. 1.000 Kilometer Holperpiste durch Steppe und Wüste trennen Chalouba von der Hauptstadt Djamena, drei lange Tage hatten wir bei strammer Fahrt für die Strecke gebraucht, denn 30 Kilometer nördlich von Djamena endet der Asphalt. Und jetzt im ersten Ennedi-Camp?

Nichts als Frieden: Aperetivo statt Artillerie, ein Uhu-Konzert statt Kanonendonner, knisterndes Lagerfeuer statt verbrannter Erde. Fast drei Wochen Ennedi stehen uns bevor, zu Fuß und per Allrad-Jeeps. Wasser zum Trinken, Kochen und Waschen gibt es nur aus Brunnen, und nur selten wird sich die Möglichkeit bieten, die Vorräte unserer achtköpfigen Gruppe in kleinen Siedlungen um etwas Gemüse oder Brot aufzustocken – ein Abenteuer auch ohne nervöse Rebellen und Militärs. Die Sonne bestimmt unseren Tagesablauf, das GPS-Gerät unseren Kurs und der Tubu-Führer Djibrilla die Routenwahl. Nur er kann sich mit den Nomaden und den Reitern der Salzkarawanen unterhalten, die ihm sagen, welche Pässe und Wadis passiert werden können und ob anvisierte Brunnen Wasser führen.

Der Italiener Pepe wiederum, ebenfalls Guide und Fahrer, kennt die örtlichen Polizeipräfekten und ihre individuellen Vorlieben. Eine Flasche Whisky vermag im Tschad mehr Türen zu öffnen als ein Empfehlungsschreiben mit dem Siegel des Innenministeriums. Noch bevor die Sonne aufgeht, höre ich Stimmen und schrecke hoch. Ein zu allem entschlossenes Guerilla-Kommando? Übermotivierte Militärs? Aber es ist Djibrilla, der sich gegen die Morgenröte abzeichnet und den Tag mit einem Gebet begrüßt.

Es ist noch vor fünf Uhr morgens. Dieser südwestliche Zipfel des Ennedi-Massivs ist an Schönheit kaum zu übertreffen. Bizarre Felsen leuchten in allen Rottönen, greifen wie Finger in den strahlend blauen Himmel, formen Löwenköpfe und maskenhafte Gesichter. Mächtige Torbögen trotzen allen Gesetzen der Statik, und allein die Vorstellung, in bis zu 100 Meter Höhe auch nur ein paar Schritte auf ihnen zu riskieren, scheint völlig absurd. Stunde um Stunde stapfen wir durch diese atemberaubende Kulisse, ruhen uns in schattigen „Innenhöfen“ und Höhlen aus, deren Felsmalereien von Zeiten erzählen, als die Ufer des Tschad-Sees noch bis in den hohen Norden reichten und die Rinderzucht ermöglichten. Zwischen den Felsgruppen bilden jetzt, kurz nach der Regenzeit, grüne Steppengräser einen angenehmen Kontrast zu Rot und Blau von Felsen und Himmel. Doch der Schein trügt: Cram-Cram heißt der Albtraum des Ennedi, ein kniehohes Gewächs mit stacheligen, kleinen Knollen, die sich bei der leisesten Berührung in der Kleidung festhaken.

Bereits um 11 Uhr vermeldet Hatto, unser Mann für die Statistik, 35 Grad. In der Mittagszeit kostet selbst jetzt, Ende November, jeder gelaufene Meter viel Kraft. Patschnass klebt die Kleidung am Körper, das aufgeheizte Wasser aus den Feldflaschen bringt man nur mit Mühe runter. Am vereinbarten Treffpunkt lassen wir uns in die Jeeps plumpsen und suchen einen schattigen Rastplatz fürs Mittagessen: Heiße, kräftig gewürzte Bouillon, knusprige Fladenbrote, Käse und Tomatensalat bringen uns wieder halbwegs auf die Beine. Drei große Alu-Kisten mit Lebensmitteln haben wir dabei, hauptsächlich Konserven und Energieträger wie Nudeln und Reis, aber auch Obst und Leckereien.

Erst am frühen Nachmittag ist an eine Weiterfahrt überhaupt zu denken. Beim Beladen der Autos sitzt inzwischen jeder Handgriff, jedes Ding hat seinen Platz. Bis zum Wadi Ba Chiguele wollen wir heute noch, doch die „Strecke“ dorthin erweist sich als zeitraubend. Trotz Allradantrieb und kurzer Geländeübersetzung versanden wir mehrfach, müssen graben, Sandbleche unter die Räder schieben, Umwege fahren, Koordinaten vergleichen, von Steinen aufgeschlitzte Reifen wechseln, kurzum: Das Ennedi fordert uns. Aber es belohnt auch: Wenige Minuten vor Sonnenuntergang erreichen wir das ausgetrocknete Flussbett und schlagen die Zelte in weichem, unberührtem weißen Sand auf. Nur kurz lässt sich am späten Nachmittag die Sonne Zeit: Die Dunkelheit bricht schlagartig über die Wüste herein.

Drei Stunden kraxeln wir am nächsten Vormittag durch das Wadi Chiguele und seine felszerklüfteten Ausläufer. Zahlreiche Tierspuren zeugen von Wasser, auf Dattelpalmen zwitschern Vögel, schließlich stapfen wir entlang eines zunächst noch mickrigen Rinnsals, das jedoch schnell an Breite gewinnt. Rechts und links von uns stehen die roten Felsen wie eine Wand, und lautstark beschimpft uns eine Horde Paviane, wohl wissend, welchen Schatz sie behütet: einen kleinen See am Ende des Wadi, der ganzjährig Wasser führt. Welch eine Wohltat, Sand und Schweiß von der Haut zu rubbeln! Zum ersten Mal seit einer Woche müssen wir das Waschwasser nicht rationieren, wir schwelgen im Überfluss. Der Luxus setzt sich fort: Djibrilla und Pepe kaufen von einem Hirten ein ganzes Schaf, das nach muslimischer Sitte geschlachtet wird. Gegrillte Rippchen und Ragout von Keule und Rücken schmecken vorzüglich.

Sobald wir auf Behausungen stoßen oder an Brunnen Nomaden treffen, wird über kurz oder lang derselbe Wunsch geäußert: Medikamente. Ludwig, Arzt aus dem Bayerischen, wird auch mit handfesten Problemen konfrontiert. Er behandelt entzündete Kamelbisse, saugt Wundwasser aus verrenkten Gelenken ab, „verschreibt“ Antibiotika und Schmerzmittel, deren Dosierung von Djibrilla gedolmetscht wird. Krankenstationen sind in dieser Region – wenn überhaupt – nur nach tagelangen Fußmärschen zu erreichen, und die Behandlungen sind im Tschad teuer, für viele Bedürftige zu teuer. Die meisten Kranken im Grenzgebiet versuchen daher, den Nachbarstaat Libyen zu erreichen: Dort ist die medizinische Versorgung kostenlos.

Nach Tagen in der Einsamkeit und Wildnis erscheint uns Fada mit seinen etwa 1.500 Einwohnern – hauptsächlich Militärs – wie eine Weltstadt. Wir brauchen Diesel und Wasser, zudem muss Pepe auch hier den örtlichen Polizeichef aufsuchen. Der Ort strahlt eine düstere Atmosphäre aus: Die Kinder singen Kriegslieder und drohen mit Steinen, die Soldaten machen einen finsteren und gereizten Eindruck. Pepe schärft uns ein, auf keinen Fall zu fotografieren. Vor wenigen Tagen hatten sich hier zwei Familien-Clans bis aufs Messer bekämpft: 14 junge Männer wurden dabei niedergemetzelt. Uns zeigt Fada, dass wir unerwünschte Fremde sind und bleiben.