Im Hinterhof der Gotteskrieger

Die Wiege der afghanischen Taliban steht in Pakistan: Im Grenzstädtchen Quetta haben sie heute noch ihre religiösen und wirtschaftlichen Wurzeln

aus Quetta BERNHARD ODEHNAL

„Vertretung der islamischen Republik Afghanistan“ steht auf einem Schild über dem großen Eisentor. Die Residenz der Taliban in der pakistanischen Grenzstadt Quetta liegt zentral, gleich neben dem Haus des Gouverneurs der Provinz Belutschistan – und ist mindestens ebenso gut bewacht. Vor dem Tor patroullieren pakistanische Soldaten und Geheimpolizisten. Von Zeit zu Zeit drängen sie die zerlumpten Flüchtlinge zurück, die hier auf Nachrichten von ihren Familien in Kandahar oder Kabul warten. Besucher des Konsulats werden durchsucht, müssen Mobiltelefone und andere elektronische Geräte einem Wächter übergeben, denn „wir müssen uns vor Terroranschlägen schützen“.

Hinter einem klapprigen Schreibtisch voller Visumsansuchen sitzt Abdul Rahim Siddiqui und hat über die Lage in seinem Heimatland Afghanistan nichts besonders zu berichten: „Das Leben geht normal weiter, die Menschen sind zufrieden.“ Zufrieden? Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat warnt vor einer Flüchtlingskatastrophe. Hunderttausende von Afghanen sollen auf der Flucht sein – aus Angst vor Krieg und Hungersnot. Aber Abdul Siddiqui hält das alles für Propaganda und Politik. Niemand verlasse das Land, im Gegenteil: „Viele junge Afghanen kommen jetzt aus Pakistan zu uns, ebenso Freiwillige aus der gesamten arabischen Welt. Alle wollen mit uns kämpfen.“

Siddiqui ist 33, flüchtete vor 20 Jahren mit seiner Familie vor der Sowjetinvasion aus Afghanistan und studierte in Quetta Kommunikationswissenschaft. Der Konsul von Quetta trug damals noch westliche Kleidung, hörte westliche Musik. Vor vier Jahren schloss er sich den Taliban an, ließ den Bart wachsen, tauschte Anzug und Krawatte gegen langes Hemd und Turban – und fühlte sich „zum ersten Mal richtig frei“.

Die meisten Studenten (Talib ist das Urdu-Wort für Student) kamen schon als Teenager mit der Ideologie des reinen Islam in Berührung. Viele von ihnen in den Koranschulen von Quetta. Als die sowjetische Armee 1989 Afghanistan verließ, hinterließ sie ein zerstörtes Land und über sechs Millionen Flüchtlinge. Fast eine Million von ihnen lebte in Lagern in Belutschistan in bitterster Armut. Reiche Familien und religiöse Stiftungen aus den Golfstaaten kamen zu Hilfe, schickten Lebensmittel und überzogen die Lager mit einer Kette von Moscheen und religiösen Schulen, den Madrassen.

Mentor der Taliban-Bewegung war der pakistanische Diktator Zia ul Haq, der die Mudschaheddin durch eine militant-religiöse Bewegung unterstützen wollte. Seine Mullahs lehrten nicht nur den Koran, sondern agitierten fleißig gegen Russland und den dekadenten Westen – und fanden unter den Flüchtlingskindern gelehrige Schüler. Als die Mudschaheddin-Kommandanten die Russen vertrieben hatten, kämpften sie allerdings gegeneinander weiter und finanzierten ihren Krieg durch Diebstahl und Plünderung. Besonders schlimm war die Lage in Kandahar, 200 Kilometer nördlich von Quetta. Am 20. September 1994 wurde nahe Kandahar eine afghanische Familie von einer Mudschaheddin-Gruppe gestoppt, ausgeraubt und ermordet. Der Legende nach rief dort der junge Mullah Mohammed Omar kurz nach dem Verbrechen seine Studentenfreunde zu den Waffen, um die Mörder zu jagen. So seien die Taliban entstanden. Tatsache ist, dass im Herbst 1994 viele Schüler aus den Madrassen Quettas zu den Waffen griffen und über die Grenze nach Afghanistan gingen. Im November desselben Jahres eroberten sie Kandahar, zwei Jahre später Kabul.

„Die Taliban haben versprochen, dem Land Frieden und ein islamisches System zu geben, das dem Willen des Volkes entspricht“, sagt Abdul Siddiqui, „dieses Versprechen haben wir gehalten.“ So sahen es zu Beginn auch viele Afghanen, die die Studenten als Erlöser von Chaos und Anarchie feierten. Viele Flüchtlinge verließen die Lager in Pakistan und kehrten in ihre Dörfer zurück. Dann begann der neue, religiöse Terror – vor allem gegen Frauen.

Quetta wurde für die afghanischen Studenten neben dem geistigen auch wirtschaftliches Zentrum – als Umschlagplatz einer florierenden Schmugglerroute. In Kandahar wurde dafür extra der Flughafen ausgebaut und vom Militär geschützt: „Wir durften gar nicht mehr in die Nähe“, erzählt ein geflüchteter Afghane in Quetta. Täglich landeten Transportflugzeuge aus Dubai (Vereinigte Arabische Emirate), voll beladen mit japanischen Stereoanlagen, koreanischen Autos, indonesischen Waschmaschinen – Güter, die Pakistan mit Importverboten oder horrenden Zöllen belegte.

Von Kandahar kam die Ware in Lastwagen, vorbei an korrupten pakistanischen Grenzpolizisten, nach Quetta. Und wurde auf dem Basar verkauft. Die Taliban kassierten bei jedem Transport kräftig ab. Beim Opium ist es noch einfacher: Das Hauptanbaugebiet liegt gleich hinter der Grenze, rund um Kandahar. Die Zwischenhändler sitzen in Luxusvillen in Quetta, zwischen denen immer noch Platz für die kleinen Lehmhütten afghanischer Flüchtlinge ist: das billige Hauspersonal für die Drogenbosse.

In den vergangenen Tagen haben die Händler aus Angst vor dem Krieg offenbar ihre Lager geleert – der Preis für Heroin rasselt in den Keller. Überhaupt steht der Schmuggelverkehr praktisch still, seit Pakistan die Grenzen zu Afghanistan geschlossen hat. Fühlt sich Taliban-Vertreter Siddiqui von Pakistan verraten? „Ja, leider fürchtet sich die ganze Welt vor Amerika. Aber ich habe Vertrauen in unsere Regierung. Wir Taliban sind jung und voller Energie.“

Nicht alle haben sich in Quetta von den Studenten abgewendet. Von einer Begeisterung für die Taliban ist zwar in den Flüchtlingslagern rund um Quetta nichts mehr zu spüren. „Wir wollen endlich Frieden“, sagt ein älterer Mann, der vor einer Zeltstadt Melonen verkauft, „die Taliban können uns den nicht geben.“ Doch die Koranschulen mit ihren Mullahs gibt es nach wie vor, und die Führer religiöser Parteien bereiten ihre Schüler auf den heiligen Krieg vor.

Hafiz Khalil Ahmed Sarangzai gehört zur „Jamiat Ulema Islam“, jener Partei, die schon bei der Gründung der Taliban Pate stand. Er leitet eine Koranschule in Quetta und hält die Taliban für die einzigen Verteidiger des wahren Glaubens. Im Schulhof schleppen seine Studenten Ziegel und Steine, um die Schlafsäle zu vergrößern. Die neu errichtete Moschee glänzt im Abendlicht. Sarangzai bereitet sich auf den Kampf der Kulturen vor und behauptet, er habe in den vergangenen drei Jahren 12.000 Studenten aus Pakistan in die Trainingslager der Taliban nach Afghanistan geschickt: „Dort haben sie gelernt, mit Bomben und Gewehren umzugehen.Wenn Amerika angreift, werden sie uns verteidigen.“

Bernhard Odehnal ist Auslandsredakteur bei der Zürcher „Weltwoche“