... nicht gleich nach dem Überbau suchen!

■ Aureliusz Smigiel inszeniert im Brauhauskeller Ravenhills „Gestochen scharfe Polaroids“

„Ich war zwanzig. Da waren doch alle Faschisten oder Bonzen oder Klassenfeinde.“ Sagt Helen, die knapp über vierzig ist und nach eigenen Aussagen auch so aussieht. Sie ist Stadträtin, hat sich eingerichtet – gemütlich: bestimmt. Glücklich? Vielleicht. Und was sie wohl am wenigsten brauchen kann ist Nick. Just der steht nach fünfzehn Jahren Knast plötzlich auf der Matte. „Du hast gesagt: ... irgendjemand sollte das Schwein umlegen“, sagt er. Sie: „Solchen Blödsinn haben wir doch alle die ganze Zeit hergeredet.“ Er hatte diesen „Blödsinn“ ernst genommen. Das war 1984. Hat ein Mitglied der besitzenden Klasse schwer verwundet.

Auch in „Gestochen scharfe Polaroids“ treffen Mark Ravenhills Dialoge einen Ton, der sich im Zwischenraum von realen Figuren und Typen befindet. Helen, Nick und auch die vier anderen sind glaubwürdig angelegt – und zugleich als Repräsentanten. Und weil Ravenhill dies kann, erklärt sich vielleicht sowohl die Popularität seiner Texte, als auch das schale Gefühl, das viele Inszenierungen hinterlassen. Zeitgenössische Dramatik ist eben nicht automatisch Pop- oder Hardcoretheater.

Dem Team um den jungen polnischen Regisseur Aureliusz Smigiel gelingen weitgehend unterhaltsame, aber auch angemessene anderthalb Stunden. Nicolaus-Johannes Heyse hat einen Spiel- und Spiegelraum gebaut, der an der Frontseite das Polaroid-Motiv aufnimmt – ein breiter weißer Rahmen . Es ist ein liegender Quader, der sich nach hinten zu verjüngen scheint. Die Seiten bestehen aus langen Spiegeln, die zahlreiche Türen verbergen, die, wenn sie geöffnet werden, den Blick auf Pfeile freigeben. Nach links, nach rechts.

Ja, wo lang eigentlich? „Gestochen scharfe Polaroids“ pendelt zwischen der scheinbaren Eindeutigkeit der Richtungsanzeiger und der mal notwendigen, mal lähmenden Selbst-Bespiegelung. Orientierungspunkte? „Bedeutet? Scheiß auf bedeutet. Nichts bedeutet was, okay?“ Das ist Victor. Er sinniert, zweite Szene, mit Nadia über übers Leben, was das Zeug hält. Sie (und Tim, der gemeinsame, nun ja: Geliebte der beiden) bilden ein zweites Trio. Hier die früheren Revoluzzer, dort die Spaßgeneration. Und ein neutraler Raum, in dem vor allem eines nicht auffindbar ist: Eindeutigkeit.

Andererseits macht es Freude, zu sehen, wie Nick die Versuche der Jüngeren, den körperlichen Versehrungen, die Nadia bei der letzten Begegnung mit ihrem Lover davontrug, mit reichlich Zynismus („Ich will nicht, dass du dir Sorgen um mich machst.“) und noch mehr Make-up beikommen wollen, mit einem simplen „für mich ist der Typ einfach ein sexistischer Wixer!“ in die Tonne tritt.

Es bleibt die souveräne, manchmal erschreckend coole und auch unterhaltsame Beschreibung eines desolaten Zustands. Der Raum wird dabei von einem geschlossen agierenden Ensemble bevölkert. Ausgerechnet bei seiner ersten Bremer Arbeit gelingt es dem Regisseur, gleich drei Neuzugänge überzeugend mit altbewährten AkteurInnen wie Gabriele Möller-Lukasz zusammenzubringen. Zum Glück. Denn das Stück lebt gerade von einer Grundbewegung der voranschreitenden Verzahnung der Typen und Lebenskonzepte. Die individuellen Suchbewegungen interessieren mehr als langfristige Perspektiven. Weil das rüberkommt, straft auch Smigiels kurzweilige Inszenierung alle Kurzschlüssigkeit Lügen. Genau diesen Punkt markiert die Figur des Nick, den Siegfried Maschek wörtlich die Welt nicht mehr verstehen lässt. In diesem Sinne ist Nick vielleicht die normalste Figur des Stücks.

Tim Schomacker

Nächste Vorstellungen: 2./7./12./13./20. und 26. Oktober, 20.30 Uhr