Tschernobyl for sale

Pierre Christin und Enki Bilal haben mit ihrem Polit-Sci-Fi-Comic „Sarcophag“ einen fiktiven Museumskatalog erstellt

In manchen Familien gibt es Wohnzimmervitrinen, deren Schaustücke von der Reiselust früherer Generationen zeugen. Manchmal haben Großonkel oder Urgroßväter ein kleines Säulenstück von der Akropolis abgehauen und mit nach Hause gebracht. In anderen Familien gibt es Schubladen, in denen wohl verwahrt ein Stück der Berliner Mauer liegt. Und wer in Tschernobyl die versteinerten Hoffnungen des 20. Jahrhunderts besichtigt? Der kommt zurück mit einem verstrahlten Bruchstück oder verwandelt, mit gutem Geschäftssinn, die pompösen Ruinen gleich vor Ort in ein multimedial komplettiertes Event-Museum. Das jedenfalls glauben Pierre Christin und Enki Bilal in ihrer neuen Polit-Sciencefiction „Der Sarcophag“.

Pierre Christin ist Schriftsteller, Journalist und Texter zahlreicher Comicszenarien – am erfolgreichsten seit vielen Jahren mit der Sciencefiction-Serie „Valerian“. Oft bringen seine Storys politische und sozialkritische Themen sciencefictionmäßig zur Sprache. In einigen Alben seit 1975 – bereits mit Enki Bilal als Zeichner – ging es um geheime Militärversuche und den Protest eines Bauerndorfes dagegen; dann wieder wurden Kommerztourismus und Polizeigewalt thematisiert. Enki Bilal selbst machte sich seinen Namen mehr noch durch eigene Comicalben, die mit überaus elegantem Zeichenstil den Verfall morbider Zukunftswelten ausmalen. Aus dieser Bilderwelt schöpfte auch sein erster Film „Bunker Palace Hotel“ (1989), zu dem Christin Drehbuch und Dialoge lieferte.

Ihr neuestes gemeinsames Projekt „Sarcophag“ ist der fiktive Subskriptionskatalog eines künftigen „Museums der Zukunft“. Mit den Strategien der modernen Unternehmenskommunikation wird uns alles präsentiert, was das 20. Jahrhundert an gefährlichen Irrtümern zu bieten hatte. Zum Beispiel der „Glasnost-Saal“, der als „ideologische Leichengrube“ konzipiert ist. Vor einer Soundkulisse aus neu abgemischten Revolutionsliedern erleben wir die sterblichen Überreste großer Persönlichkeiten (Lenin, Stalin, Pol Pot), die der Menschheit eine strahlende Zukunft geben wollten. Andere Säle thematisieren mit Hologrammen und In-vivo-Interventionen Techniken der Unsterblichkeit (Klonen, kosmetische Chirurgie, Piercing etc.), unmäßigen Reichtum (mit echten Reichen zum Anschauen) und die institutionalisierten Strategien der sozialen Ausgrenzung (Sträflinge dürfen zur Strafminderung besichtigt werden). Das Museum soll in Tschernobyl errichtet werden, ein Ort, so finden die fiktiven Ausstellungsplaner, der durch die historischen Vorgänge bereits ein perfektes Branding erhalten hat.

Christin ist ein ernsthafter Mensch und hat es sich mit dem Thema nicht leicht gemacht. Er, der auch als Professor für Journalistik an der Universität Bordeaux arbeitet, hat nach langer Recherche über die Katastrophe von Tschernobyl den Ort selbst aufgesucht: „Ich fand es moralisch notwendig, persönlich dort hinzugehen. Ich wurde nicht enttäuscht, wenn ich das so sagen darf. Trotzdem hat mich das traurige Ausmaß der Katastrophe erschüttert.“

Dieses Buch aber macht nicht im geringsten nachdenklich. Vielleicht, weil es auf jeder Seite dreimal „Dies ist eine skandalöse Idee!“ ruft. Vielleicht, weil ihm aus lauter Verzweiflung über das 20. Jahrhundert die Neugier auf die Menschen abhanden gekommen ist.

Die Menschen in den gebeutelten ukrainischen und weißrussischen Regionen werden in wenigen Statements abgehandelt. Sie taugen nur als Statisten für das grandiose, entsetzliche Ideendrama des 20. Jahrhunderts. Ihr Schicksal und ihre Stärken interessieren das Buch nicht. Deshalb macht diese ungeheuer schonungslos gemeinte Offenlegung der korrupten Moderne vor allem eines: müde.

HEINRICH RAATSCHEN

Pierre Christin/Enki Bilal: „Der Sarcophag“. Ehapa, Berlin 2001, 62 Seiten, 29,80 DM