Misstrauen gegen die moderne Welt

Der Widerstand der afghanischen Bevölkerung gegen eine Zerschlagung der traditionellen Feudalstrukturen brachte die Taliban an die Macht

BERLIN taz ■ Im unzugänglichen Afghanistan mit seiner überwiegend ländlichen Bevölkerung stellten gesellschaftliche Modernisierer stets eine Minderheit dar. Doch nie war ihr Einfluss so gering wie unter dem Taliban-Regime – hatten sie doch früher zumindest in den Städten bescheidene Fortschritte erzielt.

Ende des 19. Jahrhunderts nahmen Teile der Elite „westliche“ Ideen einer nationalen Erneuerung auf und setzten Verwaltungs- und Militärreformen durch. Unter Emir Amanullah erhielt das Land 1923 erstmals eine Verfassung. Gesetze sollten alle gesellschaftlichen Bereiche modernisieren. Doch Amanullahs Reformeifer stieß bei der in Stammesverbänden lebenden Landbevölkerung auf Widerstand. Nach Amanullahs Sturz 1929 wurden daher die meisten Reformen zurückgenommen.

Erst von 1946 bis 1952 gab es erneut eine Phase politischer Liberalisierung. 1950 wurde die erste Studentenvereinigung erlaubt (und ein halbes Jahr später wieder verboten), 1951 wurden vier private Zeitungen zugelassen. Unter dem reformfeindlichen Premier Mohammad Daud (1953–1963), einem Vetter des Königs Mohammed Zahir Schah, kam es nach dem Tod Stalins zu einer Annäherung an die Sowjetunion. Unterstützung gab es bald auch von den USA, die um Einfluss im Land buhlten. In dieser Phase des Wirtschaftsbooms wurde im August 1959 gegen den Protest konservativer Geistlicher der Schleierzwang aufgehoben und schrittweise auch der Zugang von Frauen zum Bildungssystem gefördert.

Spannungen mit Pakistan führten Anfang der 60er-Jahre jedoch zur Wirtschaftskrise. Der Ruf nach demokratischen Reformen wurde laut. Premier Daud musste zurücktreten. Nun führte der König selbst begrenzte Reformen durch. Die Verfassung von 1964 war der Versuch, die feudalistische in eine demokratische Gesellschaft zu transformieren.

Bei den Parlamentswahlen 1965 wurden erstmals vier Frauen als Abgeordnete gewählt. Es bildeten sich politische Strömungen heraus – von Ultranationalisten über Demokraten und unabhängigen Linken bis hin zu moskauorientierten Kommunisten. Von 1965 bis 1971 kam es in den Städten mehrfach zu Schüler- und Studentenprotesten.

1973 putschte Expremier Daud gegen seinen Vetter, den König, und übernahm mit Hilfe kommunistischer Offiziere die Macht. Als er 1978 gegen die Kommunisten vorgehen wollte, putschten diese. Mit brutal durchgeführten „revolutionären“ Reformen wollten sie die feudalen ländlichen Strukturen zerschlagen. Die Bevölkerung antwortete mit bewaffnetem Widerstand. Den Sturz der Kommunisten verhinderte nur die sowjetische Invasion.

Der antikommunistische Widerstand wurde zum nationalen Befreiungskrieg. Dank der massiven ausländischen Unterstützung konnten die islamistischen Kräfte die Führung übernehmen. Die Zerstörung vieler Dörfer, Massenfluchten und der Guerillakrieg führten zur Auflösung der feudalen Strukturen. Nach dem Abzug der Sowjets 1989 und dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 1992 übernahmen die zerstrittenen Mudschaheddin-Gruppen die Macht in Kabul, was mit einer Islamisierung einher ging. Viele Frauen wurden vergewaltigt.

Mit der Einnahme weiter Teile Afghanistans durch radikalislamistische Taliban-Milizen 1996, die aus den Islamschulen in den pakistanischen Flüchtlingslagern kamen, ging die Zahl der Vergewaltigungen zurück. Aber die Frauen wurden nun vollends entrechtet und aus dem öffentlichen Leben verbannt.

Heute sind Reformkräfte nur noch außerhalb des Landes zu finden. Die diskreditierten Mudschaheddin der Nordallianz gelten nicht als ernst zu nehmende Alternative. SVEN HANSEN