Nessie geht nicht ins Netz

Weil er im Internet acht Partien verlor, vermutete der Großmeister Nigel Short hinter seinem Bezwinger den Schachmythos Bobby Fischer. Mittlerweile hat er seinen Irrtum erkannt

von HARTMUT METZ

„Ich spürte die Chance, das Ungeheuer von Loch Ness zu treffen“, berichtete Schach-Großmeister Nigel Short von der ersten Kontaktaufnahme im Internet Chess Club (ICC). Ein Unbekannter hatte sich bei dem Engländer im Chatroom erkundigt, ob er demnächst gegen einen besonders starken Gegner spielen wolle. Der Vizeweltmeister von 1993 stimmte zu, kursierten doch wieder einmal Gerüchte, Bobby Fischer streife inkognito durchs Netz.

Der US-Amerikaner Fischer ist für Schachspieler das, was den Rock-’n’-Roll-Fans Elvis Presley bedeutet: „Elvis lebt“, lautet deren Motto, gefälligst das Gleiche soll für Bobby Fischer gelten. Der „King“ auf den 64 Feldern ist zwar nicht tot, aber seit dem WM-Kampf des Jahrhunderts 1972 in Reykjavík kehrte Fischer nie mehr ans Brett zurück. Die einzige Ausnahme blieb 20 Jahre später das Revanche-Match in Sveti Stefan, als der Sohn des Berliner Physikers Gerhard Fischer den Russen Boris Spasski erneut schlug. Weil der geniale Amerikaner für eine Millionenbörse die Sanktionen gegen Jugoslawien unterlief, steht der 58-Jährige immer noch auf der US-Fahndungsliste. In Budapest, Deutschland und inzwischen auch in Japan fand Fischer Unterschlupf.

Zur weiteren Legendenbildung trugen seine enormen Erfolge bei. Der 1943 in Chicago geborene Robert James Fischer lehrte von Dezember 1962 bis zum WM-Sieg 1972 auf Island die geballte sowjetische Nomenklatura das Fürchten. Nur in zwei Turnieren konnte sie ihm, der die Russen wegen ihrer Ergebnis-Absprachen hasste, Platz eins streitig machen. Der mit einst 15 Jahren jüngste Großmeister aller Zeiten, in dessen phänomenales Gedächtnis sich alle eigenen Partien lückenlos einbrannten, höhnte schon 1962, er würde dem alternden Weltmeister Michail Botwinnik gerne in einem Match über 24 Partien zwei Punkte Vorsprung geben. Den Beweis seiner Überlegenheit trat der Weltranglistenerste zu Beginn der 70er-Jahre an, als er auf dem Weg zum WM-Titel 19 Partien in Folge gewann. Ein Rekord für die Ewigkeit. Dass der Exzentriker gegen Spasski nach der verlorenen ersten Begegnung die zweite kampflos verschenkte, weil seine teils sinnlosen Forderungen unerfüllt blieben, hinderte das amerikanische Schachgenie nicht an einem 12,8:8,5-Triumph.

Die seitdem grassierende Fischer-Hysterie ergriff nun auch Short im Internet. „Wie eine Wanze zerquetscht“ fühlte sich der Weltranglisten-28., der derzeit eine Ratingzahl von 2.664 Elo-Punkten besitzt. Wer anders als Fischer, der schon 19 Partien in Serie gewann und danach die Elo-Bestleistung von 2.780 erreichte, konnte ihn sonst in Drei-Minuten-Blitzpartien mit 8:0 vernichten? Trotz obskurer Eröffnungszüge des Unbekannten vermochte der Großmeister die Bilanz nie auszugleichen. Listige Antworten blendeten den sonst so eloquenten 36-Jährigen weiter. „Kennen Sie Armando Acevedo?“, stellte der Engländer eine vermeintliche Fangfrage. „Siegen 1970“, kam es – nur für einen Schachspieler verständlich – zurück. In dem kleinen Städtchen an der Sieg hatte Fischer vor 31 Jahren bei der Schach-Olympiade Acevedo in 48 Zügen geschlagen.

Dass jeder passionierte Fischer-Fan solcherlei aus unzähligen Schachbüchern, Internetseiten und gar Filmen – zuletzt drehte Paramount Pictures 1993 einen Kinostreifen mit dem Titel „Die Suche nach Bobby Fischer“ (Produzent Sydney Pollack) – weiß, kam Short zunächst nicht in den Sinn. „Zu 99 Prozent spielte ich gegen Fischer“, beharrte er im Sunday Telegraph.

Dabei waren auch die Partien völlig untypisch für den US-Mythos. Stets versuchte der Ausnahmekönner den besten Zug zu machen. Selbst der zweitbeste, der ebenso zum Sieg gereicht hätte, fand keine Gnade vor seinen Augen. Und nun sollte der 58-Jährige im weltweiten Netz Short und andere Kontrahenten mit unsinnigen Zügen herabwürdigen? Der sonstige Flegel benahm sich während Partien stets tadellos.

„Ich denke, dass er zu viel Achtung vor seinen Gegnern hat, als dass er solche Züge macht“, bestätigt Peter Leko angesichts geradezu stümperhafter Eröffnungen. Der 21-jährige Weltranglistensiebte hält seinen einstigen Trainingspartner in Budapest noch immer für gut genug, um „starke Großmeister zu schlagen“, letztlich sei Fischer aber nicht der „Typ dafür, im Internet gegen x-beliebige Gegner anzutreten“.

Loch Ness wie Fischer behält Short in schlechter Erinnerung. Als er 1993 beim WM-Kampf in London hoffnungslos gegen Kasparow zurücklag, passte die Buchmacherkette Graham Hill eines Werbegags wegen die Siegesquote des Engländers den 150:1 an, die beim Auftauchen des Ungeheuers ausbezahlt würden. Auf Fischers Comeback würde der einstige Vizeweltmeister nicht mehr wetten. „Ich bin einem Streich aufgesessen“, räumt Short inzwischen ein und mutmaßt wie alle anderen, dass er einfach gegen ein von einem Scherzbold bedientes Computerprogramm verlor.