Glaube versetzt Tote

Teufels Werk und Gottes Segen: Stewart O’Nan erzählt in seinem Roman „Das Glück der Anderen“ von der Auslöschung eines amerikanischen Städtchens

Es wird also nicht einfach bloß gestorben, sondern es fließt richtig viel Blut

von GERRIT BARTELS

Gott segne America – kaum ein anderer Ausruf wurde in den letzten drei Wochen öfter aus amerikanischen Mündern vernommen. God bless America – es klang als Reaktion auf den Terror irritiert, beschwörend, flehend, so als müsste es doch wenigstens einen Halt geben in einer Zeit, in der alle Gewissheiten unter den Trümmern des World Trade Centers begraben wurden.

Es ist natürlich Zufall, dass just am 11. September hierzulande Stewart O’Nans neuer Roman „Das Glück der Anderen“ veröffentlicht wurde – eine profane Gleichzeitigkeit von Buchveröffentlichung und historischem Datum, zumal das Buch in den Staaten schon 1999 unter dem Titel „A Prayer For Dying“ erschien. Andererseits fällt es nach der Lektüre leicht, Parallelen zwischen Buch und Wirklichkeit herzustellen, da glaubt man allein durch O’Nans Buch zu verstehen, welche Ambivalenz in diesem „God bless America“ liegt, wie angekratzt der amerikanische Glaube an Gottes Schutz und Beistand ist. Auch in O’Nans Roman ist es eine – oberflächlich betrachtet – heile Welt, die plötzlich ins Taumeln gerät; eine Ortschaft mit dem hoffnungsvollen Namen Friendship, gelegen im Wisconsin der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts; eine kleine Welt im Hochsommer, in der Männer flimmernde Felder bestellen, Kinder in kühlen Bächen planschen und Frauen in der Stadt Stoffe befühlen und auswählen.

Diese kleine Welt wird durch den Ausbruch einer Krankheit und eine später noch dazukommende Feuersbrunst vollständig zerstört, und ins Zentrum dieser Welt hat Stewart O’Nan einen gottesfürchtigen Helden gestellt: Jacob Hansen, Bürgerkriegsveteran und jetzt in Personalunion Sheriff, Prediger und Leichenbestatter des Örtchens; er hat schon während des Bürgerkriegs Schreckliches erleben müssen, seinen Glauben an Gott aber bewahrt. Auch jetzt, da er in der Umgebung von Friendship einen toten Soldaten findet und wenig später eine schwer kranke Frau, da der Doktor die unheilbringende Diagnose Diphterie stellt und ihm den Ratschlag gibt, Friendship unter Quarantäne zu stellen, auch da ringt Jacob Hanson um seinen Glauben: „Dein Glaube wird dich stets retten (...) Wann wird dich dein Glaube nicht retten? Wenn du zu stark an diese Welt glaubst. An dich. An etwas anderes als Gott. Wenn du es nicht zulässt. Wenn du nicht gerettet werden willst“.

Stewart O’Nan jedoch reicht es nicht, die Kollision eines tief Gläubigen mit dem ganz normalen, fast alltäglichen Schrecken darzustellen. Nicht nur dass Hansen schon angeschlagen wirkt durch das, was er im Bürgerkrieg erlebt hat, also ein typischer O’Nan-Held ist, ein Bruder von Larry Markham aus „The Names Of The Dead“, von Jorge Ortega aus „A Good Day To Die“, von James und Annie Langer aus „A World Away“ – also jemand, der schon vorm Einsetzen der eigentlichen Romanhandlung traumatisiert wurde.

Nein, O’Nan lässt den Schrecken nicht nur leise durch die Hintertür kommen, sondern arbeitet zusätzlich mit Versatzstücken der gothic novel und verbeugt sich vor seinen Helden wie Stephen King, Denis Johnson oder George Romeros und seinem Film „Night Of The Living Dead“. Es wird also nicht einfach gestorben, es fließt Blut; es vergiften sich Menschen mit einem Mittel namens „Paris Green“ und ätzen sich dabei Lippen und Kehle weg, es sterben Menschen qualvoll in ihren brennenden Häusern – und O’Nan hält immer direkt drauf. Jacob Hansen wiederum, der sowieso am liebsten die Toten bestattet, der sich im Bürgerkrieg in tote Pferdeleiber wühlte, um nicht entdeckt zu werden, sich vom Fleisch toter Kameraden ernährte, um zu überleben, aus dem wird ein Krankheitsüberträger, Mörder, gefallener Engel. Hansen kennt bald keine Grenze mehr zwischen Leben und Tod, er küsst seine tote Frau, schläft mit ihr, lebt mit ihr und der toten Tochter: ein Nekrophiler, wie ihn sich auch der krankeste Splatterregisseur nicht besser hätte ausdenken können.

Dieser Erzählansatz mag zu O’Nans referenzieller Arbeitsweise gehören, der mag sich für einen gehören, der sich selbst einmal ironisch als “Horrorautor“ bezeichnet hat. Doch vor dem Hintergrund seiner Inspirationsquelle ist es auch wieder verwunderlich. Denn „A Prayer For Dying“ basiert auf Michael Lesys 1973 entstandenem Buch „Wisconsin Death Trip“, einer Dokumentation über das Leben und Sterben in Black River Falls, Wisconsin, Ende des 19. Jahrhunderts; einer Stadt, in der nicht nur Mord und Totschlag regierten, sondern auch die Diphterie wütete. Lesy montierte für das Buch alte Zeitungsausschnitte und Fotografien, die er im Nachlass des Fotografen von Black River Falls gefunden hatte, und er erregte damit zu Zeiten des ausgehenden Vietnamkriegs Aufsehen, weil er auf brutal realistische Weise zeigte, dass auch “früher“, „in den guten alten Zeiten“, nicht alles Gold war, was in Amerika glänzte.

Als O’Nan das Buch in einem Antiquariat entdeckte, war er schwer beeindruckt und hatte sofort die Idee, daraus eine fiktive Geschichte zu machen. Nur scheint es, als hätte er dem Schrecken der Wirklichkeit allein nicht getraut, als hätte er gar nicht anders können, als diesen noch zu toppen durch die Elemente einer Horrorgeschichte. Vielleicht hatte er auch einfach nur Angst.

Dabei reicht allein die Erzählperspektive in Form der zweiten Person Singular, um das Gruseln zu lehren: Vor Jacob Hansen gibt es kein Entkommen, der schließt einen solcherart einfach mit ein in seine Gedanken, Gebete und Zwiegespräche. Da wechseln Rührung und Grauen im steten Wechsel ab, der Leser erfährt nachhaltig, dass Gott Amerika schon früher im Stich gelassen und seinen Segen verwehrt hat.

Jacob Hansen aber verliert selbst dann seinen Glauben nicht, als wirklich alles in Schutt und Asche liegt und nur noch Tote auf ihn warten. Er ist weiter überzeugt von Gottes Entscheidungen, von dessen Unbeirrbarkeit und Gerechtigkeit. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er heute noch – zumindest mit seinen Toten.

Stewart O’Nan: „Das Glück der Anderen“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt 2001, 222 S., 39,90 Mark