Travelling Texte

Letzten Sommer wurden 103 Autoren in den Zug gesetzt und sechs Wochen von Lissabon bis Paris und von Riga bis Berlin gefahren. Jetzt ist „Europaexpress. Ein literarisches Reisebuch“ erschienen

von CHRISTIANE TEWINKEL

Es war nicht anders als bei jeder Gruppenreise auch. Man kennt sich nicht so richtig und soll auf einmal wochenlang zusammensein. Pünktliche Abfahrtszeiten, gemeinsames Aussteigen. Blaskapellen zu Begrüßungen, Kulturveranstaltungen – damit haben sich die Ähnlichkeiten aber auch schon. Diese Reisegruppe hat dem Flugzeug Adieu gesagt und ist für die bessere Kontemplation und die historische Befrachtung in den Zug gestiegen. Hat sich einem babylonischen Sprachgewirr ausgesetzt und zwischen Schlafen und Aussteigen, Empfängen und Lesungen mehr oder weniger mitgeschrieben. Schließlich ist man Schriftsteller. Vielleicht nicht hauptberuflich, aber immerhin. Andere Touristen machen in Postkarten und Tagebuch, diese haben für daheimgebliebene Zeitungsleser geschrieben, für die literarische Öffentlichkeit – und für das eben bei Eichborn erschienene Buch „Europaexpress. Ein literarisches Reisebuch“.

Es ist ein reiches Kompendium geworden. 103 Autoren aus 43 Ländern sind auf Initiative der literaturWERKstatt berlin im vergangenen Sommer in den Zug gestiegen und von Lissabon über Madrid, Paris, Dortmund, Kaliningrad und Riga nach Moskau gefahren, von dort über Warschau nach Berlin. Anderthalb Monate, durch elf Länder und neunzehn Städte. „Die Reise schien mir eine sympathische Verrücktheit zu sein, eine amüsante Idee, aber kaum zu verwirklichen“, erinnert sich der Spanier Carlos Casares. Bis die Veranstalter immer dringender um seine Passbilder baten. Die aus Belorussland stammende schwedische Autorin Inga-Lina Lindqvist, die von sich selber sagt, sie sei zwar erst 1964 geboren, doch die jüdische Paranoia habe sie noch immer fest im Griff, hörte vor allem „Güterwagen“ und „one piece of luggage“.

Im nun erschienenen Erlebnisbericht überschneiden sich die Erzählungen kaum. Zwar lässt sich erahnen, dass der Osten einen stärkeren Eindruck gemacht hat als der Westen, zwar scheinen hier und da die illustren Gestalten der Reise in immer anderen Zeichnungen auf – der menschenliebende Isländer Gunnarsson, der aserbaidschanische Krimi-Autor Abdullajew, der Englisch zu sprechen nur elegant vorgibt – doch ist das nur umso spannender, bleibt das Projekt vielfarbig, wie ganz Europa es ist. Ein Buch, an dem Dutzende von Übersetzern mitgewirkt haben, in dem reisende AutorInnen über einander schreiben, über Sprachen und Ethnien, das Wasser in Minsk, über Chopins Geburtshaus in Warschau oder den eingeparkten Kleinbus in Madrid, so ein Buch ist schon etwas ganz Spezielles. Außerdem erscheint es zeitgleich in mehreren Ländern. Auch wenn in einigen der Texte die Verbindung zum Europaexpress längst nicht mehr sichtbar ist, so hat er sie doch sicher inspiriert. Ein bisschen Schwund ist schließlich immer. Das Projekt bleibt einzigartig, das Buch ein unvergleichlich interessanter Europaführer.