Große Teams weinen nicht

Auch ohne den verletzten Stürmer Michael Owen gedenken Englands Fußballer morgen gegen Griechenland die WM-Teilnahme perfekt zu machen und manch ein Brite munkelt schon vom Titel

aus London RONALD RENG

Englands Passspiel ist peinlich schlecht, es gibt keine Struktur, keine Balance, keine Organisation im Team, die Spieler in der Mannschaft wechseln wie die Lottozahlen: unkontrolliert, absurd, jede Woche.

Was für ein Unterschied doch ein Jahr macht. Jene oben aufgeführte Analyse erschien fast auf den Tag genau vor zwölf Monaten im Londoner Daily Telegraph. England war gerade mit einem 0:1 gegen Deutschland und einem 0:0 in Finnland in die Weltmeisterschaftsqualifikation gestartet, und die Frage war: Würde das selbst ernannte Mutterland des Fußballs wenigstens noch Albanien überholen?

Heute ist bekanntlich alles ganz anders, nach dem 5:1-Sieg im September über Deutschland kann sich England am Samstag in Manchester mit einem Erfolg gegen Griechenland auf Kosten der Deutschen direkt für die WM 2002 qualifizieren, und Fachleute wie Liverpools Trainer Gerard Houllier müssen sich vom Londoner Express fragen lassen: Kann England Weltmeister werden? Der Ausmaß des Gedächtnisschwunds, der im Fußball herrscht, ist faszinierend: England 2000, eine Bolzplatztruppe – England 2001, die Weltmeister? So einen Unterschied macht ein Jahr dann doch nicht.

Es mag schwierig sein, das rechte Maß zu halten in einem Land, in dem ein einziger Triumph über Deutschland einen Merchandising-Wahn auslöst (das Video des Spiels für 12,99 Pfund, das 5:1-T-Shirt drei Pfund billiger). Doch tatsächlich hat England in dem einem Jahr, seit Trainer Kevin Mich-interessiert-keine-Taktik-Keegan durch den schwedischen Sachbearbeiter Sven-Göran Eriksson ersetzt wurde, bislang nur zurück zum gewohnten Standard gefunden.

Ein Sieg gegen die bestenfalls mittelmäßige griechische Elf sollte nicht mehr als Routine sein, zumal die Griechen auch unter ihrem neuen Trainer Otto Rehhagel vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Verteidiger Grigoris Georgatos von Inter Mailand weigert sich nach der 1:5-Abfertigung gegen Finnland in Rehhagels erstem Match, noch einmal ins Nationaltrikot zu schlüpfen. Aber gerade weil ein englischer Erfolg so selbstverständlich erscheint, ist das Match in Manchester ein interessanter Test: Hat England schon die Reife, solche Pflichtveranstaltungen souverän hinter sich zu bringen?

Eriksson hat, was Keegan nie gelang, in seinen ersten zehn Monaten eine feste Elf formiert. Am Samstag, wenn mit Abwehrspieler Sol Campbell und Stürmer Michael Owen zwei Hauptmänner verletzt fehlen, wird sich zeigen, wie variabel Trainer und Team sind. Der Verlust des Beschleunigungswunders Owen wird England zum Stilbruch zwingen, ohne ihn macht es wenig Sinn, viele steile, flache Pässe in den Rücken der gegnerischen Abwehr zu jagen. Eriksson rief die verbliebenen Spieler auf, Haltung zu bewahren: „Wir sind ein großes Team. Wir dürfen nicht weinen.“

Als weitgereister Trainer, der fast zwei Jahrzehnte lang in Portugal und Italien arbeitete, kennt der Schwede solch gemeine Trainerprobleme wie Verletzungsausfälle zur Genüge, seit vergangener Woche kennt er auch die speziellen Alltagsprobleme englischer Trainer: Profis, die besoffen Unsinn machen. Chelseas Mittelfeldspieler Frank Lampard spielte mit drei Vereinskollegen in einer Hotelbar den wilden Mann. Unter anderem beglückten sie die anderen Gäste damit, dass sie im Delirium „alles raushängen ließen“, wie ein Augenzeuge sagte. Eriksson strich Lampard aus dem Kader, verweigerte ihm aber nicht seine christliche Güte: „Wir alle werden dann und wann fehlgeleitet, das ist menschlich.“

Alles wird gut, England vielleicht sogar Weltmeister; wenn auch nicht bei der nächsten WM. Ein Team braucht länger zur Reife als ein Jahr. Am gestrigen Donnerstag hielt sich das Fieber noch in Grenzen. Es gab Wichtigeres: „Queen hat Plastikente in ihrer Badewanne!“, schrieb The Sun auf ihrer Titelseite.