Sockel für drei Säulen

Nach den Anschlägen zeigt die EU kaum Profil – und ihr Parlament pocht auf Beteiligung

Die EU braucht keine Notstandsgesetze, weil sie ständigim Ausnahme-zustand lebt

Angespannt wartet die Weltöffentlichkeit auf den großen Gegenschlag, und die Moderatoren der Nachrichtensendungen klappern den Globus ab. Wie äußert sich Bush? Wo steht die Nato? Was signalisiert Putin? Wie reagiert die Europäische Union?

Ja, die Europäische Union – reagiert die eigentlich überhaupt irgendwie? In den Nachrichten ist Brüssel derzeit der Ort, an dem die Nato den Bündnisfall erklärt hat. Dass Putin sich hier am Mittwoch zum europäisch-russischen Gipfel einfand, bevor er dem Nato-Generalsekretär seine Aufwartung machte, dass sich die europäischen Staatschefs hier am 21. September zum Sondergipfel trafen, um ihre Geschlossenheit zu demonstrieren, erscheint politisch nachrangig.

Kein Wunder, denn die EU-Politik nach den Anschlägen vom 11. September ruht auf drei höchst unterschiedlich stabilen Säulen. In Beton gegossen ist nur die erste, der gemeinsame Markt. In allen Fragen, die diesen Bereich betreffen, reagiert sie mit gelassener Routine. Wenn beispielsweise als Folge der Terrorattacken die Luftfahrtindustrie in die Krise gerät und staatliche Finanzspritzen für marode Fluggesellschaften gezahlt werden sollen, gibt es dafür ein vielfach erprobtes Genehmigungsverfahren: Mario Monti, der für Wettbewerb zuständige EU-Kommissar, muss entscheiden, ob die beantragte staatliche Beihilfe zu einer unzulässigen Wettbewerbsverzerrung führen kann.

Wesentlich weniger solide ist dagegen die zweite Säule, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Als Außenkommissar Chris Patten am Dienstag im Straßburger Parlament über die Reise der so genannten EU-Troika in den Mittleren Osten berichtete, brachte er in der ihm eigenen ironischen Art das ganze Dilemma in einem Halbsatz unter: Er gehöre weltweit der einzigen Troika an, die nicht aus drei, sondern aus vier Mitgliedern bestehe. Dabei war eigentlich beabsichtigt, dem gemeinschaftlichen Handlungswillen auch eine „gemeinsame Gestalt“ zu geben; deswegen wurde der ehemalige Nato-Generalsekretär Javier Solana zum außenpolitischen EU-Beauftragten gemacht. Doch bei wichtigen Reisen wie dieser erhält Solana als Aufpasser die beiden Politiker, die den Job vorher auch gemacht haben: den Außenminister des Landes, das gerade die Ratspräsidentschaft innehat – derzeit Belgien –, und den Außenminister des Landes, das im nächsten Halbjahr dran ist – das wird Spanien sein. Zusätzlich ist der für Außenbeziehungen zuständige EU-Kommissar Chris Patten stets mit von der Partie. Da dem diplomatischen Gewicht dieser Viererbande aber kein Mitgliedsland so richtig zu trauen scheint, machen sich außerdem der Ratspräsident – derzeit der belgische Premier Guy Verhofstadt –, der Kommissionspräsident Romano Prodi und die jeweiligen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten noch zusätzlich auf die Reise in die Region. In manchem mittelöstlichen Herrscherhaus dürfte in den vergangenen Wochen der Eindruck entstanden sein, in der EU gebe es mehr mächtige Klanführer als in Afghanistan.

Fast völlig fehlt jedoch das gemeinschaftliche Handeln in der Innen- und Sicherheitspolitik. Diese dritte Säule ist nicht nur brüchig, sondern auch noch hohl: Zum vorerst letzten Mal versuchten im letzten Dezember die fünfzehn Staatschefs auf dem Gipfeltreffen von Nizza, sich auf den Füllstoff zu einigen – vergeblich. Weder im Steuerrecht noch bei der Migrationspolitik oder der Verbrechensbekämpfung wollen die Nationalstaaten Kompetenzen an die europäische Ebene abgeben. Der deutsche Innenminister stellte in Nizza klar, dass er sich die deutsche Asylpolitik nicht durch Humanitätsduselei verderben lasse und Gemeinschaftsrecht hier nur einstimmig zustande kommen könne. Und so steckten auch die anderen Regierungschefs ihre Tabuzonen ab, bis nichts mehr für die Gemeinschaftspolitik übrig blieb.

Das rächt sich jetzt. Globalisierten Terrorstrukturen ist einzelstaatlich nicht beizukommen. Das haben die Mitgliedsregierungen nach der ersten Schockstarre auch begriffen. Da sie es aber jahrelang versäumt haben, die EU-Institutionen dem gemeinsamen Markt anzupassen, gibt es keine demokratische Instanz, die hysterische Reaktionen bremsen könnte. Insofern befindet sich diese EU, verfassungsrechtlich gesehen, ständig im Ausnahmezustand. Sie braucht keine Notstandsgesetze, um die parlamentarische Kontrolle in Kriegs- und Krisenzeiten auszuhebeln. Denn parlamentarische Kontrolle der im Rat beschlossenen Innen- und Sicherheitspolitik gibt es auch in Friedenszeiten nicht.

Umso erstaunlicher, dass den Abgeordneten des Europaparlamentes am Dienstagabend ein Dringlichkeitsantrag auf die Straßburger Schreibtische flatterte: Schon Anfang nächster Woche will der Rat eine Rahmenverordnung beschließen, mit der man hofft, die Finanzquellen von Terrororganisationen auszutrocknen, und er bittet das EP um Zustimmung. Es geht um die Sperrung der Konten von 27 Einzelpersonen und Organisationen, die amerikanische Ermittler als Geldgeber der Terrorattacken identifiziert zu haben glauben.

Auf den ersten Blick ein simples Begehr. Aber Anfang des Jahres und zuletzt im Juli hat der Rat schon einmal versucht, den Taliban den Geldhahn zuzudrehen – und beide Male wählte er dafür einen Rechtsakt, der ohne Anhörung des Parlaments über die Bühne gehen kann. Nun soll die „Kampagne gegen Terrorfinanzierung“, wie Chris Patten sie nennt, psychologisch auf eine neue Grundlage gestellt werden. Alle politischen Kräfte in der EU, so die Botschaft, ziehen ohne Wenn und Aber an einem Strang.

Dabei wissen die Straßburger Abgeordneten über das Zustandekommen dieser Liste nicht mehr als jeder CNN-Zuschauer. Ein Kontrollgremium, wie es in nationalen Parlamenten existiert, das zur Geheimhaltung verpflichtet ist und Einsicht in vertrauliche Ermittlungsakten bekommt, gibt es im Europaparlament nicht. Dennoch billigten gestern zwei Drittel der Abgeordneten den Verordnungsentwurf von Rat und Kommission – wer will sich schon den Vorwurf einhandeln, er stelle sich quer, wenn es darum geht, Massenmördern das Handwerk zu legen.

In den Augen mittelöstlicherHerrscher hat die EUmehr Klanführerals Afghanistan

Ohne Wenn und Aber ging die Abstimmung allerdings nicht über die Bühne – und das ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Vorgang. Denn das Parlament hat seine Zustimmung an Bedingungen geknüpft: Die Regelung soll nach zwei Jahren auslaufen, und den Betroffenen muss der Klageweg vor dem Europäischen Gerichtshof offen stehen. Wenn sie auch moderat sind: Der Rat muss jetzt entscheiden, ob er den demokratischen Skrupeln der Parlamentarier Rechnung trägt oder sich nun doch lieber mit einem Verwaltungsakt begnügt, für den er das Parlament nicht braucht. Das aber wäre nach diesem Vorspiel ein Affront, der dem Rat eine Menge Ärger einbringen würde.

Wenn die Abgeordneten also die Nerven behalten und ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren, könnte für Europa am Ende sogar etwas Positives herausspringen: die Erkenntnis, dass EU-Politik auf Dauer nicht ohne politische Legitimation zu machen ist. Damit wären wenigstens die Fundamente stabilisiert, auf denen die Säulen ruhen.

DANIELA WEINGÄRTNER