Auf den Spuren der Schmuggler

Der pakistanische Grenzübergang am Khyberpass ist abgeriegelt. Hilfe für Afghanistan läuft nur weiter, weil Grenzgänger den Weg über die Berge wagen

aus Peschawar BERNHARD ODEHNAL

Am frühen Nachmittag ist Hadji Hamid über die afghanisch-pakistanische Grenze gekommen. Ganz einfach sei es gewesen, sagt der kleingewachsene Mann und lächelt verschmitzt in seinen langen, grauen Bart. Der Grenzübergang am Khyberpass ist seit zwei Wochen geschlossen. Aber „oben in den Bergen, da gibt es keine Kontrolle“.

Ein afghanischer Wagen brachte den 53-Jährigen aus seiner Heimatstadt Dschalalabad in ein abgelegenes Bergdorf. Von dort musste Hamid zwei Stunden lang zu Fuss über kahle Bergrücken marschieren und auf pakistanischer Seite noch einmal eine Stunde mit dem Taxi Richtung Peschawar fahren. Alleine war er auf der Tour nicht. „Alle gehen über die Berge: Flüchtlinge, Schmuggler, Bauern mit ihren Ziegenherden. Für uns ist das ganz normal.“

Von einer großen Flüchtlingswelle, wie sie die UNO seit Tagen vorhersagt, hat Hadji Hamid nichts gesehen. Viele Menschen seien aufs Land geflohen, aber nicht über die Grenze. Dschalalabad, die ehemalige Taliban-Hochburg mit einer Million Einwohner, sei beinahe ausgestorben. Die Angst vor amerikanischen Raketenangriffen ist hier, an der Hauptstraße zwischen Peschawar und Kabul, besonders groß. 1998 schlugen rund um die Stadt Cruisemissiles ein, weil die Amerikaner hier die Lager von Ussama Bin Laden vermuteten.

Nur Stunden nach den Terroranschlägen vom 11. September sind viele Bewohner aus der Stadt geflüchtet. Nur noch die Händler des Bazars kommen zurück, erzählt Hadji Hamid. Sie öffnen am Vormittag ihre Geschäfte, damit die Männer aus den umliegenden Dörfern Lebensmittel kaufen können. Auch ein paar Arbeiter kommen noch in die Stadt, unter ihnen auch Hamids ältester Sohn. Knapp zwei Mark pro Tag verdient er in der Getreidemühle. Das reicht gerade für einen Sack Reis. Spätestens um 15 Uhr sind Arbeiter, Bazarhändler und Kunden wieder aus der Stadt verschwunden. Danach, sagt Hamid, hat er in den Straßen nur noch junge Männer mit Kalaschnikows gesehen. Vielleicht seien das Polizisten der Taliban gewesen, vielleicht marodierende Soldaten, vielleicht bewaffnete Banden – wer kann das noch unterscheiden?

Vor seiner Karriere als Grenzgänger hatte Hamid einen durchaus soliden Beruf. In Königsstein am Taunus lernte er Anfang der 1970er Jahre Hotelmanagement und Deutsch. Er ging zurück in seine Heimat und übernahm ein Hotel in der Provinz Bamian, nahe der berühmten Buddha-Statuen, die die Taliban im Frühjahr zerstörten. Reisen nach Afghanistan waren damals der neueste Trend in Westeuropa. „Unser Hotel war voll mit Deutschen, Schweizern, Italienern, Franzosen“, erinnert sich Hamid, „Zimmer waren nur mit wochenlanger Vorausbuchung zu bekommen.“ Dann kamen ungebetene Gäste. Sowjetsoldaten und Mudschaheddin lieferten sich in Bamian erbitterte Kämpfe, das Hotel war ein beliebtes Ziel der Granatwerfer.

Hamid ging mit seiner Familie nach Kabul. Der Krieg folgte ihnen. Als die Russen fort waren, legten verfeindete Mudschaheddin-Gruppen die Hauptstadt in Schutt und Asche. Hamid floh nach Pakistan. Seine Familie ging mit, kehrte aber nach Dschalalabad zurück, als die Taliban an die Macht kamen. „Sie konnten das Leben im Lager nicht mehr ertragen und hofften auf Frieden.“

Hamid blieb in Peschawar und wurde zum Spezialisten für unmögliche Transporte. Er ist einer von tausenden couragierter Afghanen, die hier die Projekte der UNO und nichtstaatlicher Organisationen am Leben halten – die den Büros in Pakistan Nachrichten überbringen und mit Geld und Hilfsgütern nach Afghanistan zurückkehren.

Mitte September überquerte Hamid mit einer Eselskarawane das Hindukusch-Gebirge. „Wenn ich gewusst hätte, wie schwierig das wird, hätte ich es vielleicht nicht getan.“ Die Schweizer Hilfsorganisation Terre des Hommes wollte 15.000 Meter Wasserschläuche aus Pakistan zu ihren Projekten in Nordafghanistan bringen. Der Manager kannte den Weg zwar nicht. Aber er hatte die Aufgabe übernommen und führte sie mit jener afghanischen Sturheit aus, die viele Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen in Staunen versetzt. „Ich musste es tun. Das war Ehrensache.“

Aus Pakistan gibt es in das Gebiet der Nordallianz nur einen Weg: auf Saumpfaden über die Berge. Mit zehn Lastwagen brachte Hamid die Schläuche in die nördlichste Stadt Pakistans, Chitral. Von dort ging es mit 35 Pick-ups zum Bergdorf Shah Saleem und weiter mit 200 Eseln über die Grenze. Drei Tage dauerte die Reise der Karawane – durch Schluchten, entlang halsbrecherischer Abgründe, über den 4.600 Meter hohen Dorah-Pass. Faisabad, die Hauptstadt der Nordallianz, ist zwar auch von Tadschikistan aus erreichbar. Aber die Hungersnot ist im Norden ebenso schlimm wie in den von den Taliban kontrollierten Gebieten. Das Land braucht rasch Hilfe. In spätestens sechs Wochen sind die Pässe zugeschneit und unpassierbar. Viele Helfer wollen jetzt auf Hadji Hamids Spuren nach Afghanistan gelangen. Das UNO-Kinderhilfswerk Unicef schickt Medikamente, Schulbücher, Nahrung und Kleidung über den Hindukusch. In zehn Karawanen sollen 800 Esel 200 Tonnen Hilfsgüter in den Norden bringen.

Doch die Zeit ist knapp, und nicht nur das unwegige Terrain macht Probleme. Pakistanische Behörden blockieren die Ausreise. Nördliche Kommandanten müssen erst garantieren, dass sie die Transporte auf dem Weg nach Faisabad schützen und nicht überfallen. Geschieht das nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen, ist es für die Nordroute zu spät. Sobald Schnee fällt, ist der Saumpfad unpassierbar.

Hadji Hamid geht dann wieder andere Wege. Vor drei Tagen hat er seine Familie evakuiert. In Dschalalabad mietete er drei große Lastwagen und brachte seine Frau, die sechs Töchter, vier Söhne, zwei Schwiegersöhne und drei Enkel samt Hab und Gut in sein Heimatdorf. Jetzt sitzt er in Peschawar und bereitet sich auf die nächste Reise nach Afghanistan vor. Diesmal wird es einfacher: Er soll Medikamente nach Kabul bringen – über den Khyberpass oder, etwas abseits, über die alten Schmugglerpfade.

Bernhard Odehnal ist Auslandsredaktor der Zürcher Weltwoche