Der Grund von allem

1.500 AthletInnen kämpfen heute auf Hawaii um den Ironman. 226 Kilometer Tortur. Und ein modernes Abenteuer

von FRANK KETTERER

Sie würde als Erste ins Ziel laufen. Ein Triumph. Die junge Frau war am frühen Morgen 3,8 Kilometer durch den welligen Pazifik gekrault, hatte sich dann aufs Rennrad gesetzt, um die schwarze Lavaödnis des Queen Kaahumanu Highway zu durchqueren. Dort brennt die Sonne wie in einem Hochofen, dort blasen nicht selten Winde so stark vom Meer, dass sie kleinen Orkanen ähneln.

Als sie zurückgekommen war nach 180 Kilometern, immer noch als Erste, stellte sie ihre Rennmaschine ab, schnürte sich in Windeseile die Laufschuhe und machte sich abermals auf den Weg hinaus in diese Hölle. 42,195 Kilometer galt es noch hinter sich zu bringen, einen Marathon. Als sie einbog auf den Alii Drive, die pechschwarze Zielgerade direkt am Pier von Kailua Kona, jubelten ihr die Menschen zu. Julie Moss konnte das Zielband schon sehen.

Dann begann sie zu wanken, sacht zunächst. Ihre Schritte wirkten unsicher, sie taumelte, verlor schließlich den Boden unter den Füßen, ihre Beine waren einfach weggeknickt. Julie Moss war am Ende, am Ende ihrer Kräfte, am Ende ihrer selbst. Nun schien es ihr, als drohte jeden Moment ihr Kopf zu platzen vor Hitze, die sie den ganzen Tag begleitet hatte auf ihrem Weg.

Die Hitze, die sie ausgesaugt hatte, Stück für Stück, weil der Körper da draußen auf dem Highway mehr Flüssigkeit verloren hatte, als sie zu sich nehmen konnte, obwohl sie doch getrunken hatte bei so ziemlich jeder Verpflegungsstation, fünfzehn Liter, zwanzig vielleicht über das ganze Rennen verteilt. Und doch viel zu wenig, um jetzt, auf den letzten Metern, noch genug Energie im Körper zu spüren.

Die Athletin fühlte sich nur noch leer. Krämpfe waren ihre müden Beine hinaufgekrochen und schüttelten nun ihren Körper, während ihr Magen sich zu drehen begann. Sie hatte nicht einmal mehr zum Kotzen die Kraft.

Julie Moss hatte ihre Grenze überschritten, aber sie war nicht bereit, das zu akzeptieren, sie dachte noch nicht einmal daran, aufzuhören. Nicht so kurz vor dem Ziel. Nicht als Führende. Die junge Frau versuchte sich aufzurappeln – und fiel wieder hin. Sie vermochte nicht mehr zu gehen, aber krabbeln, kriechen, das erlaubte ihr der geschundene Körper noch.

Also kroch sie dem weißen Band entgegen. Keine fünfzig Meter lagen noch vor ihr, als Kathleen McCartney an ihr vorbeilief und den Ironman Hawaii, die härteste Ausdauerprüfung der Welt, gewann. 31 Sekunden später war dann auch Julie Moss im Ziel – als Zweite.

Von der Siegerin spricht heute, neunzehn Jahre danach, kaum noch jemand in der Szene der eisernen Männer und Frauen. Julie Moss aber ist Geschichte geworden, Kult. Ihr Drama auf der Zielgeraden hat dem Ironman Hawaii, dieser martialischen Ausdauerprüfung in drei Teilen, seinen mächtigsten Popularitätsschub versetzt. Die Übertragung des amerikanischen Fernsehsenders ABC wurde im Jahr ihrer Erstausstrahlung die Sportsendung mit der höchsten Einschaltquote in den USA. „Davor“, so stellte die New York Times fest, „war der Triathlonsport etwa so populär wie Lamarennen“, diese Tragödie von 1982 „brachte die junge Sportart auf die Weltkarte“. Die strauchelnde Julie Moss wurde zum Sinnbild einer Sportart, die mehr als alle anderen Leibesübungen vor ihr den Menschen an seine Grenzen zwingt – und manchmal auch darüber hinaus.

Every finisher is a winner, heißt der Leitsatz auf Big Island; jeder, der es ins Ziel schafft, ist ein Sieger. Immer wieder bekommen die Athleten das eingeflößt auf ihrem langen Weg durch die kargen Lavafelder des Highways, wo die Temperatur nicht selten über fünfzig Grad ansteigt. You can do it raunen ihnen die rund fünftausend freiwilligen Helfer frühmorgens, wenn es noch dunkel ist über der kleinen Hafenbucht von Kailua Kona, schon beim Aufmalen der Startnummern zu.

You can do it ruft es ihnen bei jeder Verpflegungsstation entgegen. Das mag typisch amerikanisch sein, aber es ist den Athleten mehr als sonstwo Maxime: Ich kann es schaffen. Ich kann ein Sieger sein. Aufgeben ist nichts, ins Ziel kommen alles. Egal wie, egal wann. Auch dafür steht der Name Julie Moss.

Gewiss, es gibt Wettbewerbe über die gleiche Distanz auch anderswo, in der Schweiz, Australien und auch in Deutschland. Nirgendwo sonst aber ist die Strecke so hart und sind die Bedingungen so schwer. An keinem anderen Ort tritt der Gedanke des Ironman-Wettbewerbs so unmittelbar zutage wie auf Hawaii, seinem Geburtsort: Der Kampf gegen die Gewalten der Natur gepaart mit dem Kampf gegen sich selbst, den inneren Schweinehund.

Das ergibt eine infernale Mischung, die Physis und Psyche gleichermaßen auf den Prüfstand stellt. Denn irgendwann während dieser quälenden 226 Kilometer kommt garantiert der Punkt, an dem der Körper nur noch vom Willen getragen wird. „Eine Mischung aus Seelenschmerz und Körperqual“, hat der Amerikaner Mark Allen, Ehemann von Julie Moss und selbst sechsfacher Sieger auf Hawaii, das Big race einmal genannt. „Nirgends sonst kann ich meine Grenzen so austesten wie auf Hawaii“, sagt Thomas Hellriegel, vor vier Jahren erster und bisher einziger deutscher Sieger auf Hawaii.

Grenzgänger sind sie alle, die sich das antun, egal ob als Profi oder Amateur. „Die Leute wollen aus ihrem normalen Leben ausbrechen“, glaubt Hellriegel. Und Hawaii ist der Ort, an dem das Abenteuer zu Hause ist, so wie Tennis in Wimbledon oder Radsport in Frankreich. Frag einen Triathleten, warum er seinen Sport ausübt. Er wird immer antworten: Wegen Hawaii. „Hawaii“, sagt Thomas Hellriegel, „ist der Grund von allem.“

Dabei ist längst nicht mehr zu klären, wann genau der Wettbewerb den Sprung geschafft hat vom ganz normalen Wahnsinn zum Mythos. Vielmehr ist der Ironman Hawaii zu einer Art Perpetuum mobile geworden, einem Phänomen, das sich längst selbst in Bewegung hält: Triathleten aus aller Welt reisen auf die Pazifikinsel, weil sie dort den Mythos vermuten.

Und der Mythos hält sich am Leben und wächst und gedeiht, eben weil Triathleten aus aller Welt Jahr für Jahr nach Hawaii kommen, um hier ihr ganz persönliches Oktoberfest zu feiern. Die kleine Hafenbucht, in der der Startschuss fällt, der lang gezogene Highway, über den ein Großteil des Rennens führt; das Energy Lab, jener schmale Weg hinunter zum Meer, auf dem sich so oft schon das Rennen entschieden hat, weil auf dem Weg zurück vom Meer kein Wind mehr kühlt; schließlich der Alii Drive, diese Straße hin zum Ziel – die Pilgerwege des Triathlons.

Und jeder, der hier einmal teilgenommen hat, wird anschließend weitererzählen, wie es ihm ergangen ist: wie er gegen die Dünung des Meeres angekämpft hat, begleitet von Delfinen und Wasserschildkröten, wie er ganz allein war da draußen in der Hitze der Lavawüste mit sich und seinen Gedanken, wie er dem Mumuku, diesem gefürchteten Fallwind auf dem Weg nach Hawi, dem Radwendepunkt, getrotzt hat, und wie ihm schließlich Krämpfe die Beine hochgekrochen sind, ganz langsam, beim abschließenden Marathon.

Noch bevor ein Triathlet zum ersten Mal einen Fuß auf Big Island setzt, hat er davon gehört, gelesen oder es im Fernsehen gesehen, garantiert. Er weiß, was ihn erwartet, ziemlich genau. Und er hat sich darauf vorbereitet, akribisch, meist über Jahre hinweg. Und dennoch: alles Theorie. So schlimm, wie es wird, stellt es sich keiner vor.

Die es nach Hawaii schaffen, sind Auserwählte. Auch das macht dieses Rennen zu etwas Besonderem: Dass man sich nicht einfach anmelden kann, wie bei den meisten anderen der weltweit über fünfzehn Ironman-Wettbewerben, sondern sich eben dort qualifizieren muss. 1.500 Startplätze, so genannte slots, vergeben die Organisatoren der World Triathlon Corporation für Hawaii, nicht einen mehr.

Dabei wächst die Masse derer, die sich dafür bewerben von Jahr zu Jahr und hat die 25.000 längst überschritten. Und doch sind es – wie an diesem 6. Oktober – immer nur 1.500 AthletInnen, die sich der Tortur stellen dürfen.

Die Opfer, die die Athleten dafür erbringen, sind groß, unermesslich groß. So ziemlich jede freie Minute geht drauf für schwimmen, Rad fahren und laufen; wer nicht mindestens fünfzehn bis zwanzig Stunden pro Woche trainiert, hat keine Chance. Das hat nicht mehr viel mit Romantik zu tun oder Abenteuer, sondern ist längst Leistungssport, Hochleistungssport. Durchkalkuliert, durchtrainiert, durchgeplant. Teilweise über Jahre hinweg stählen sich Männer und Frauen, um einmal, nur ein einziges Mal vielleicht, teilnehmen zu dürfen auf Hawaii. Fast nebenbei wird ihnen die Selbstkasteiung im Training zur Bestätigung des eigenen Ichs, die Askese zum Lebensluxus. Hawaii wird für viele somit auch Sinnerfüllung in sinnentleerter Zeit.

Dabei ist das öffentliche Bild der Spinner, die sonst nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen, längst überholt. „In ihrer Persönlichkeitsstruktur“, stellt etwa Jürg Schmid, Sportpsychologe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, fest, „entsprechen Triathleten voll der Norm. Sie sind in keiner Art und Weise auffällig.“ Die Gründe, warum jemand Triathlon betreibt, seien ohnehin nicht auf ein einzelnes Motiv zu reduzieren. „Psychisches Wohlbefinden durch den Sport“, „Knüpfen von sozialen Kontakten“, „Förderung von Gesundheit und Fitness“ sowie das „Erleben der eigenen Leistungsfähigkeit“ wurden in einer Studie mit sechshundert TriathletInnen am häufigsten für ihr glühendes Interesse an ihrer Disziplin benannt.

Schmid zieht einen weiteren Aspekt in Betracht: Religiöse, regionale, soziale oder familiäre Zugehörigkeiten seien lange Zeit die gängigen Identitäts- und Sinnquellen des Menschen gewesen. Aber die seien gerade in modernen westlichen Gesellschaften längst von Arbeit und Beruf abgelöst worden. „Wer und was man ist“, so Schmid, „hängt meist davon ab, was man beruflich tut.“ Genau dieses Argument dreht der Sportpsychologe weiter: Durch die Abnahme der Arbeitszeit hätten sich die Gewichte in den individuellen Zeitbugdets erneut verschoben. Schmid erklärt es so: In Form von Freizeit biete sich nun ein weiterer Lebensbereich, in dem Menschen Sinn und Identität finden. „Ausgerechnet die Freizeitbeschäftigung Triathlon“, stellt Schmid fest, „ist ein Handlungsfeld, das vielen Menschen Sinn vermittelt und Gelegenheit gibt, sich stets von Neuem in ihrer Identität wahrzunehmen.“ Das aber könnte auch eine Definition für passionierte Skatspieler sein. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss setzt den Akzent im Sinne des Zeitgeistes richtig: Der moderne Mensch müsse in „gefährliche Randzonen vordringen, um aus dem ungeheuren Vorrat ungenutzter Kräfte einen Vorrat an persönlicher Macht zu schöpfen“.

Dabei, so sehen es die Schweizer Sportsoziologen Hanspeter Stamm und Markus Lamprecht, „können Ausdauerleistungen zu einer Quelle von Prestige und Status werden“, weil „die asketische Lebensweise und Opferbereitschaft des Triathleten zur Chiffre für Beharrlichkeit, Belastbarkeit und Durchsetzungsvermögen im Berufleben“ werden.

Draußen auf dem Highway helfen all diese Erklärungen nicht weiter. Keinem. Auch Peter Beyer nicht. Drei Jahre hatte der Kriminalkommissar gespart, um sich 1999 mit seiner Frau das Abenteuer Hawaii leisten zu können. Elf Stunden hatte der 51-Jährige eingeplant bis ins Ziel, deutlich langsamer als bei seiner Qualifikation im fränkischen Roth. Noch bei Tageslicht ankommen in Kona, das war sein Ziel.

Und dann ist es doch Nacht geworden über dem Highway, und Peter Beyer bekam von den Helfern Phosphorröhrchen umgehängt, damit er in der Dunkelheit der Lavawüste nicht verloren geht. Beim Marathon hatten ihm die Beine versagt, plötzlich und einfach so, obwohl er doch ganz genau gewusst hatte, was auf ihn zukommt. Irgendetwas hat ihn da draußen auf der Strecke zermürbt, kaputt gemacht, an die Grenze getrieben. „Im Ziel kam nur noch Erleichterung auf“, erzählt Peter Beyer. „Spaß hat das keinen gemacht.“

Durchgehalten hat er dennoch und danach für sich befunden, dass dieser schlimme Tag doch auch ein guter für ihn war. „Was man will, das schafft man auch“, sagt Peter Beyer, der Ironman.

FRANK KETTERER, 35, ist taz-Redakteur im Ressort Leibesübungen. Zwei Mal war er schon auf Hawaii, um vom „Ironman“ zu berichten. Der ehemalige Diskuswerfer konnte bisher dank großer Selbstdisziplin und körperlicher Unpässlichkeit von Triathlonselbstversuchen abgehalten werden. Dafür hat er zusammen mit Martin Krauß ein Buch zum Thema geschrieben: „Triathlon – Geschichte, Kultur, Praxis“, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2001, 190 Seiten, 32,99 Mark