„Jede Tour ist eine Party“

John ist Handverkäufer. Jeden Abend verkauft er in den Kneipen von Berlin-Schöneberg die taz

von KIRSTEN KÜPPERS

Es sind auch globale wirtschaftliche Zusammenhänge, die den US-Amerikaner John zuletzt in den Nebenberuf als taz-Handverkäufer trieben. Als die Mauer fiel, lebte John als Elektronik-Ingenieur in Frankreich. Den Ökonomien in Osteuropa werde mit dem Zusammenbruch der Systeme großes Wachstum bevorstehen, prognostizierte er damals, Mitteleuropa würde dagegen in einer anhaltenden Stagnation versinken.

John zog nach Berlin. Deutsch zu lernen, schien dem stämmigen Mann einfacher als Russisch.

John ist 49, Kalifornier und hat einen Schnauzbart. Er nennt sich „Urgestein des Handverkaufs“. Seit über zehn Jahren, sechs mal die Woche abends, vertreibt er abends als einer von zwölf Kollegen die taz vom kommenden Tag in Berliner Kneipen und Restaurants. Nur ein einziges Mal ist er wegen eines kaputten Fahrrads ausgefallen. „Und gerade der Handverkauf lebt ja von der Kontinuität der Person“, sagt Bernd Thalhammer aus der taz-Vertriebsabteilung. Schließlich baue der Zeitungskunde ein emotionales Verhältnis zu seinem Verkäufer auf.

Wenn Menschen trotzdem lieber ihre Zeitung beim Kiosk erstehen, liege das an der Funktion des Kiosk-Angestellten als „Träger von Kiez-Information“, während der Handverkäufer nicht als Kommunikationspartner zu gebrauchen sei, da er stets gleich zur nächsten Kneipe weiterzieht.

Johns Tour beginnt an diesem Abend im Schöneberger Schwulenkiez – verspätet, denn der weiße taz-Transporter hat ausnahmsweise unpünktlich geliefert. Es nieselt, als wäre es längst November, John hat eine Plastiktüte über seinen Fahrradsattel gespannt.

Das Geschäft läuft schleppend: Weder im eleganten Indischen Restaurant „Maharadscha“, noch in der Pizzeria mit den von der Decke hängenden Knoblauchzöpfen gibt es Kunden für die taz. „Die Männer sind nicht zum Zeitungslesen hier“, sagt John lakonisch.

Ihm sei der Umsatz sowieso ziemlich egal: „Ich mache diesen Job nicht zum Geld Verdienen, sondern um mein Deutsch zu verbessern.“

Vor kurzem hat John ein Zweitstudium in Betriebswirtschaft abgeschlossen. In den Kneipen sieht er den gesamtwirtschaftlichen Niedergang Deutschlands. Der wirke sich auf den Kneipenverkauf der taz aus, und den der Konkurrenz genauso. Vor fünf Jahren, sagt John, seien seine Einnahmen weitaus höher gewesen.

Handverkauf ist kein ganz einfaches Geschäft. John weiß, dass mittlerweile 80 Prozent der taz-LeserInnen AbonnentInnen sind. Das ist gut für die taz. Macht die Sache aber für John nicht einfacher. Abonnenten kaufen natürlich in der Kneipe nicht. Johns Aufgabe ist es, neue Leser an die Zeitung heranzuführen.

Seine Kunden und deren Gewohnheiten kennt er mittlerweile recht gut: An der Neonreklame des gut besuchten Erotik-Centers „Sexyland“ steuert er gezielt vorbei, erst auf dem Barhocker einer vermeintlich authentisch eingerichteten Trattoria findet John den ersten taz-Leser: einen Kettenraucher mit abgenutzter Motorrad-Lederjacke.

Ein Zeitungsmarkt kann indes auch neu geschaffen werden: Eine koreanische Kollegin habe „aus dem Nichts“ einen vernachlässigten Teil der Innenstadt zu einem florierenden taz-Absatzgebiet transformiert, erzählt John.

Seither versuchen alle Berliner Kollegen gleichzuziehen. In der holzgetäfelten Gaststätte mit dem Jimi Hendrix-Poster an der Wand sind Johns Bemühungen allerdings noch nicht von Erfolg gekrönt. Eine stark geschminkte Blondine an der Theke lacht, ein Hund bellt, die Luft riecht wenig einladend nach gebratenem Kotelett.

Pause: Boxenstopp

Es sind freilich die zwischenmenschlichen Gesten, auf die es John in seinem Arbeitsalltag ankommt, auf die „Boxenstopps“. Beim Griechen schenkt ihm eine schöne Kellnerin Ouzo aus, beim Italiener gibt es Fußballergebnisse aus der Fernsehübertragung, in der Jazz-Kneipe dänische Kekse und ein Glas Saft.

„Jede Tour ist wie eine große Party“, bekennt John, „so, als wäre man in 60 verschiedenen Wohnungen zu Gast.“ Mit der Verschmelzung von Beruf und Privatleben fühlt er sich überaus wohl. Ursprünglich hatte er den Job nur als Urlaubsvertretung übernommen, von einem Mann, der im „Schwarzen Café“ herumsaß. Der Mann blieb für immer in Ski-Ferien, damit ging im Berliner Arbeiterviertel Wedding der taz-Handverkauf ganz an die Aushilfe John über.

Ende: Mitternacht

Am Ende der Tour ist es kurz vor Mitternacht, von oben nässt weiter der Nieselregen herunter, John hat doch noch mehrere Dutzend Zeitungen verkauft. Als ich ihn am nächsten Vormittag anrufe, ist er gerade von einem Diskothekenbesuch nach Hause gekehrt.