Körperformationen

Massenspektakel: Mit der japanischen Rap-Oper „Ryusei“ eröffnete Kampnagel am Samstag seine Spielzeit  ■ Von Karin Liebe

Die Masse macht's. Wenn sich ein paar Dutzend Menschen auf monumentaler Bühne synchron bewegen und dazu aus vollen Kehlen kreischen, hat das suggestive Wirkung. Ein Gefühl der Überwältigung stellt sich ein, ein kurzer Rausch der Sinne. Doch nach 100 Minuten ist der eruptive Kick längst einem Dämmerzustand gewichen. Die Masse allein macht's also doch nicht.

Mit Ryusei (Sternschnuppen), einer Rap-Oper der Gruppe Ishinha, die seit über 30 Jahren vom japanischen Künstler Yukichi Matsumoto geleitet wird, hat Gordana Vnuk am Samstag ihre erste Spielzeit auf Kampnagel eröffnet. Bei ihrer Begrüßungsansprache steht die neue Intendantin vor einem Meer schwarzer Podeste am Bühnenrand. Als sie Ryusei im Hafen von Osaka erstmals sah, habe sie die „großen epischen Formen, die mit Spektakel und kollektivem Geist spielen“, wieder entdeckt. Das europäische Theater dagegen hätte sich schon lange „an einen Ort der Intimität und Konzentration zurückgezogen“.

Intim ist dieses Massenspektakel, das erstmals in Europa gezeigt wird, nun wirklich nicht, dafür umso konzentrierter. Der Komponist Kazuyuki Matsumura sitzt wie ein Dirigent im Orchestergraben am Mischpult und produziert pulsierende Technorhythmen. Dazu rappen 35 Darsteller, Sänger und Tänzer mit militärischer Disziplin. Nichts wirkt improvisiert, jede Bewegung, jeder Ton sitzt. Die weiß geschminkten, regungslosen Gesichter unter Baseballkappen sehen sich alle ähnlich – sogar das Geschlecht ist kaum zu erkennen.

Körperformen verschwimmen in einer Art Schuluniform aus weiter schwarzer Hose und weißem Hemd zu androgynen Wesen, die an Cyborgs erinnern. Alle marschieren mit denselben eckigen, harten Bewegungen auf und ab und hin und her, nur die Frauen kreischen in hohen und die Männer in tiefen Stimmlagen. Ein spektakulärer Auftakt mit martialischen Bewegungen und Klängen, der durch seine kraftvolle Ästhetik fasziniert. Aber irgendwann stellt sich doch unausweichlich die Frage: Wird hier eigentlich etwas erzählt, jenseits des rein Dekorativen und Plakativen?

Schnell ein Blick ins Programmheft: Von einem „leidenschaftlichen Epos von Vergangenheit und Zukunft der großen Städte“ ist da die Rede. In der ersten Szene, so heißt es weiter, würden Straßenkids Schattenboxen trainieren. Ach so. In der zweiten Szene treffe dann ein fliehender Junge auf einen anderen Jungen mit bandagierten Augen. Wie bitte? Tatsächlich, da sehen zwei anders aus als alle anderen. Ein Junge rast unmotiviert und mit ängstlich aufgerissenen Augen durch die Schwarz-Weiß-Kulisse. Doch der andere ist eindeutig ein Mädchen – klar identifizierbar an den Rundungen und der kreischhohen Stimme. Das Programmheft wird wieder zugeklappt.

Auch gut, wir sind ja aufgeklärte Bürger, haben schon mal was von dem spannungsvollen Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im Allgemeinen und in Japan im Besonderen gehört. Dort zählt das Kollektiv angeblich mehr als der Einzelne, dort gibt es Drill und Disziplin statt Freiheit und Individualität. Was die Bilder bestätigen: Die zwei Außenseiter haben es wirklich nicht einfach. Der sehende Junge wird verfolgt und entdeckt und ersticht in Notwehr seine Häscher. Rotes Wasser fließt dekorativ aus dem Hahn. Dem blinden Mädchen, das sich trotz ihrer Behinderung selbstbewusst bewegt, öffnet er die Augen. Daraufhin stolpert sie nur noch mit entsetzt aufgerissenen Augen herum. Zum Schluss hallen ihre verzweifelten Schreie allein auf der verlassenen Bühne.

Die Masse gibt Sicherheit, der Einzelne ist nichts ohne sie. Oder genau umgekehrt? Ratlos verlässt man dieses Spektakel. Ist das No-Theater? Vielleicht soll es hier nichts zu fragen und zu antworten geben, vielleicht hat man hier ganz einfach ein Konzert mit aufwändiger Bühnenshow gesehen.

nächste Vorstellungen: 9.12.10., 20 Uhr, Kampnagel