Kurzer Sommer des Anstands

Ein Jahr „Aufstand der Anständigen“ und eine Berliner Tagung mit düsterer Bilanz

Als Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ aufrief, sprach die Bilanz eine deutliche Sprache: 93 Todesopfer rechter Gewalt zählte eine Dokumentation, die „Tagesspiegel“ und „Frankfurter Rundschau“ vorlegten. Inzwischen sind vier hinzugekommen: Im April erstach ein Neonazi in Halberstadt einen Sozialdemokraten, der sich über das Abspielen des Horst-Wessel-Liedes beschwert hatte; in Schleswig, Greifswald und Dahlewitz in Brandenburg wurden Obdachlose erschlagen. Das geplante NPD-Verbot hat die erste Hürde genommen; mit „Landser“ wurde erstmals eine rechte Band verboten – an der Zahl der Straftaten hat sich jedoch nichts geändert: Bundesweit wurden in diesem Jahr bisher 8.200 rechtsextreme Straftaten verzeichnet; die Dunkelziffer ist hoch.

So war es auch kein Wunder, dass am Freitagabend im Haus der Demokratie eine düstere Bilanz gezogen wurde. Unter dem Motto „Waffenbruder Staat? Antifaschistischer Widerstand und Rechtsstaatliche Ordnung – ein Jahr Aufstand der Anständigen“ war man sich zum Auftakt eines Rechtsextremismus-Kongresses schnell einig, dass der verordnete Aufstand wenig Früchte getragen habe: Von einem „perversen Patt“, sprach Frank Jansen, Tagesspiegel-Redakteur und einer der Autoren der Opfer-Liste: Zwar habe die gesellschaftliche Aufmerksamkeit „spürbar zugenommen“; andererseits habe die rechte Szene sich dadurch bisher nicht beeindrucken lassen. Immer deutlicher sei aber auch geworden, dass Rechtsextremismus und Rassismus integrale Bestandteile der Gesellschaft seien.

Der Bundesvorsitzende des Republikanischen Anwaltsvereins Wolfgang Kaleck warnte davor, sich zu sehr auf das Strafrecht zu stürzen: Die Konzentration auf juristische Maßnahmen – wie im Falle des angestrebten NPD-Verbots sei „völlig verfehlt“. JEANNETTE GODDAR