„Ich lasse mich nicht provozieren“

Am Tag nach den Militärschlägen in Afghanistan läuft das Leben in der Stadt ganz normal weiter. Von Angst vor Terrorangriffen ist nur wenig zu spüren. In der Friedrichstraße wurde allerdings ein Bürogebäude geräumt – wegen eines Bombenalarms

„Schreiben Sie, es gibt keine Demokratie in Deutschland, alles Scheiße“

Am Tag eins nach den US-Angriffen auf das afghanische Taliban-Regime war in der Haupstadt fast alles wie an einem ganz normalen Oktobertag – einzige Ausnahmen: das schöne warme Wetter und ein Bombenalarm in der Friedrichstraße. Am Alexanderplatz bleibt die Stimmung indes gelassen – Skater, Schnorrer, Schnäppchenjäger gehen ihren üblichen Tätigkeiten nach, genießen das schöne Spätsommerwetter. Von Angst vor Rache-Anschlägen Ussama Bin Ladens keine Spur.

„Da hätte der viel zu tun“, sagt einer, ins Kaufhaus eilend. Schließlich stünden mehr als 40 Länder hinter den Amerikanern. „Ich lass mir das Shoppen nicht vermiesen“, meint ein Mädchen bei New Yorker, das gerade ein T-Shirt, mit einer US-Marine-Aufschrift bedruckt, von der Stange zieht. Hier wie im Kaufhaus gegenüber ist von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen nichts zu spüren. „Einen Selbstmordattentäter erkennt man eh nicht“, sagt ein Wachmann. „Da muss erst was passieren.“

Die Haltung zu den Miltiärschlägen ist gemischt. Während die einen betonen, dass etwas gegen den Terrorismus getan werden musste, befürchten andere eine Eskalation. Für einen Punker sind die USA ohnehin „der größte Schurkenstaat auf der Welt“, ein Ostberliner Student lehnt indes Anti-Kriegsdemonstrationen ab. „Hinter dem Ruf nach Frieden verstecken sich die Mörder von New York.“

Auch am Potsdamer Platz scheint vordergründig alles wie immer. Nur in der Mitte des Marlene-Dietrich-Platzes steht demonstrativ eine Polizei-Wanne, über den Hochhäusern kreist ein grün-weißer Hubschrauber. „Guck mal, ein Polizeihubschrauber“, ruft eine ältere Dame ihrer Begleiterin mit touristischem Interesse zu. Ein smarter Anzugträger im Straßencafe vor dem Sony-Center doziert in breitem amerikanischem Englisch cool die Weltlage. Er ist Geschäftsmann aus Belgien. Bedroht fühle er sich nicht. Wer nicht bei einem Autounfall sterben wolle, der dürfe eben nicht fahren. Und bestellt ein Glas trockenen Weißwein. Ein Tourist aus Bottrop beobachtet neugierig zwei Polizisten. Gegen Ausweiskontrollen auf der Straße hätte er nichts: „Als normaler Mensch, der nichts zu verbergen hat, muss man das über sich ergehen lassen.“

An einer Glasvitrine in den Arkaden betrachten zwei orthodoxe Juden mit Kippa das Modell des Platzes. Gegenüber steht ein muslimisches Pärchen, sie mit Kopftuch. Beim Aufschauen treffen sich kurz ihre Blicke – zuerst Verblüffung, gefolgt von etwas Unsicherheit – dann gehen sie ihrer Wege.

Vor einem Casino flanieren angeregt diskutierend eine Mitvierzigerin und ihre junge Kollegin. „Das ist ein stolzes Volk“, weht ein Wortfetzen der Älteren herüber. Näher äußern möchte sie sich nicht. „Schreiben Sie, es gibt keine Demokratie in Deutschland, alles Scheiße“, sagt sie noch und verschwindet. Ihre Kollegin sei mit den amerikanischen Angriffen nicht einverstanden, erklärt die Jüngere. Beide arbeiten in einem der Hochhäuser. Seit einer Woche müssten sie ihre Betriebsausweise immer sichtbar tragen, sie deutet auf die Plastikkarte an ihrer Hose. Man könne ja nicht wissen, ob in irgendeinem Koffer nicht eine Bombe sei.

Mittagszeit im KaDeWe – geschäftiges Treiben wie eh und jeh: In grauem Frack und Zylinder steht der Portier im Eingangsbereich. An ihm vorbei schieben sich tütenbepackte Touristen und kauflustige Rentern. Zwischendurch grüßt er einen Stammkunden. „Alles ganz normal“, konstatiert der Portier gelassen, „wen soll man auch kontrollieren. Es ist ja nichts greifbar.“

Auch im dritten Stock bei den Büchern ist alles wie immer. „Nur Titel über den Islam, vor allem Scholl-Latour, die sind jetzt besonders nachgefragt“, meint ein Buchhändler. Auch die Prophezeiungen des Nostradamus verkauften sich gut.

In der Delikatessen-Abteilung weiß ein Geschäftsmann, in Würde ergraut, Austern zu schätzen. Den Genuss lässt er sich auch heute nicht nehmen. Er wirkt entspannt, wird aber vehement, wenn es um den Terror geht: „Die amerikanischen Gegenschläge sind zwingend erforderlich. Man darf vor der von Bin Laden provozierten Angst in keinem Fall klein bei geben.“

Friedlich auch Kreuzberg: Verschleierte Frauen schlendern mit ihren Einkaufstasche nach Hause, türkische Männer unterhalten sich rauchend auf dem Bürgersteig, Studenten genießen eine Kaffee-Pause auf den Terrassen.

„Heute ist ein ganz üblicher Tag, ich habe auch nicht mehr Zeitungen verkauft als sonst“, sagt eine türkische Zeitungsverkäuferin. „Es juckt die Leute nicht, es ist zu weit weg von hier.“

Gleichgültigkeit auch in einem verrauchten Cafe der Manteuffelstraße. Acht junge Türken unterhalten sich teilnahmslos um zwei grünbedeckte Tisch. Nebenbei werfen sie ein Auge auf das Fußballspiel, dass im Fernsehen läuft. „TV8 – unser türkischer CNN – haben wir heute morgen angeschaut. Aber, da bringen sie immer die gleichen Nachrichten“, sagt der Inhaber des Lokals. „Die amerikanischen Anschläge sind heute morgen schon ein Thema, aber eigentlich, weiß in in Kreuzberg keiner, was er davon halten soll. Da kann man nur abwarten“.

„Hier macht man Geschäfte und redet nicht über die aktuelle Situation“

In einer Bäckerei diskutieren gerade ein türkischer Stammkunde und die Verkäuferin über die Vergeltungsschläge. Die Bewohner machten sich schon Gedanken aber wir fühlen uns nicht bedroht, sagt sie. In Wedding sei es ganz anders, irgendwie viel angespannter, antwortet der 30-jährige Türke. „Dort war ich drei Stunden heute morgen und die Leute debattieren viel heftiger.“

„Hier macht man Geschäfte und man redet nicht über die aktuelle Situation. Außerdem sind wir hier Türken und nicht Araber“, sagt der Besitzer eines Obstladens, als würde er jegliche Diskussion ablehenen. Eine misstrauische Einstellung, die mehrere angesprochene Türken teilen.

Angespannt war die Situation auch am Nachmittag in der Friedrichstraße. Am Nachmittag wurde ein Telekom-Gebäude vorübergehend vollständig wegen eines Bombenalarms evakuiert. In einem Parkhaus sei ein verdächtiger Koffer gesichtet worden, so ein Polizeisprecher. Nach einer halben Stunde dann die Entwarnung. Das Corpus Delicti war ein Medizinkoffer. „Ein bisschen mulmig war mir schon“, sagt eine Sekretärin. „Aber da werden wir uns wohl dran gewöhnen müssen.“

BF, MD, ROT, VH