Terror ist eine politische Entscheidung

Der Diskurs hinkt momentan sehr der Realität hinterher: Heute beginnt im Haus der Kulturen der Welt die erste Plattform der documenta 11 mit Vorträgen über Wahrheit, Gerechtigkeit, „Demokratie als unvollendeter Prozess“

Es ist schwierig, eine Konferenz über den Stellenwert von Kultur in Zeiten von Globalisierung einzuleiten, wenn draußen der Krieg angefangen hat. Okwui Enwezor, Leiter der kommenden documenta, hat diese Erfahrung zweimal innerhalb eines Monats gemacht. Die erste Konferenz zum „Plattform“-Meeting in Berlin fand am 13. September statt. Und auch gestern fiel die Präsentation der für die nächsten vier Wochen angesetzten Berliner Talkrunden enorm kurz aus. Immerhin wußte Peter C. Seel vom Haus der Kulturen der Welt als Gastgeber der Veranstaltung, dass deren Thema „Demokratie als unvollendeter Prozess“ einige „Aktualität bekommen hat“.

Auch Enwezor hat Schwierigkeiten, weil der Diskurs momentan sehr der Realität hinterherhinkt. „Wie soll man vorwärtskommen, wie soll man sich artikulieren“, so sein knappes Resümee zum Fortgang der documenta-Planung, „wenn die Welt, wie wir sie kennen, in Auflösung begriffen ist?“ Deshalb bemüht sich Enwezor, den Rahmen aufrechtzuhalten, in dem sein documenta-Team operiert: Wenn die Diskussion um „Demokratie als unvollendeter Prozess“ kreisen soll, sind Fragen wie die nach „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ tatsächlich konstitutiv für und zugleich Reflexion auf den Umgang zwischen Kulturen. Dann gehören die katastrophalen Folgen von Bürgerkriegen wie in Ruanda, die G-8-Demonstrationen in Genua und der Bin-Laden-Konflikt eben doch zusammen.

Homi K. Bhabha wird diese komplexen Verwicklungen wahrscheinlich ganz gut erklären können. Der in Indien geborene Literaturprofessor unterrichtet unter anderem African American Studies an der Harvard University in Cambridge, Massachussetts. Heute abend soll er über seine These sprechen, dass angesichts der Ereignisse vom 11. September „die Entscheidung, Terror auszuüben“, keine „zivilisatorische oder kulturelle Praxis“ darstellt, sondern „eine politische Entscheidung“. Das ist ein kluger Standpunkt jenseits des „clash of civilizations“. Ob er den Vortrag aber überhaupt wird halten können, ist ungewiss: Seit Sonntag sind US-Flughäfen in Alarmbereitschaft, vielleicht kommt er gar nicht nach Berlin.

Trotzdem will Enwezor die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich aus den erweiterten Kontexten einer postkolonialen Welt ein irgendwie gemeinsamer Nenner für kulturelle Praxis ergeben kann. Schon stehen 80 Künstler fest, die an der documenta teilnehmen werden, um sich mit diesen Problemen zu beschäftigen. Die Autonomie der Kunst interessiert ihn dabei wenig: „Es kotzt mich an, dass diese Vorstellungen immer noch in einigen Köpfen existieren, darüber rede ich nicht“, erklärte Enwezor schroff, als nachgefragt wurde, wer für ihn die Kunst von heute repräsentiert. HARALD FRICKE

Vorträge, ab 19 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee