Das Ende der Realpolitik

Wenn die Grünen dem Krieg zustimmen, werden sie nicht nur ihre Identität verlieren, sondern auch künftige Wahlen. Schuld haben daran nicht die Taliban, sondern sie selbst

Statt der Grünen hat ausgerechnet die PDS mit ihren ergrauten Stasikadern ein vertretbares Konzept

Weltgeschichtliche Ereignisse schlagen auch in der Provinz ihre Wellen, und die Frage nach der Zukunft der grünen Partei wird durch diesen Krieg entschieden werden. Das war am Abend des Kriegausbruchs im Fernsehen zu sehen.

Es sind die Bilder der Kriegstage, an die wir uns erinnern werden. Im Gedächtnis bleiben die undeutlichen Aufnahmen von Lichtpunkten über einem Gelände, das Kabul sein mag oder nicht, das Video des kränkelnden, Unheil verheißenden Ussama Bin Laden, das der arabische Fernsehsender „al-Dschasira“ ausgestrahlt hat und der Auftritt der – so sagt man wohl heute – deutschen Führungsspitze. Zu besichtigen war eine Pressekonferenz des Kanzlers, nachdem die politische Führung der USA die Deutschen soeben in den engsten Kreis der Freunde und Kriegsteilnehmer berufen hatte. Im Hintergrund stand der grüne Vize, mit grimmigem Antlitz, aber einem zu hellen, dem Ernst der Stunde nicht angemessenen Dreiteiler. Und wie um zu unterstreichen, dass er in diesem Krieg keineswegs nur hinter dem Kanzler steht, tönte das Handy und wurde herausgezogen. Es wird eben weiterkommuniziert. Alle Welt hat es gesehen: Es gibt zumal für den Außenminister in solchen Zeiten nichts Wichtigeres als im Schatten des staatstragenden Bundeskanzlers dessen Politik zu exekutieren. Kein Schriftsteller hätte sich ein treffenderes Sinnbild für die Rolle der Grünen in dieser Koalition ausdenken können. Unvergesslich auch die grüne Verteidigungsexpertin Angelika Beer, die neben dem entspannten Exaußenminister der anderen liberalen Partei, Klaus Kinkel, stockend Verständnis für den pakistanischen Dikator und die von ihm verhängte Nachrichtensperre bekundete.

Was vor mehr als zwei Jahrzehnten im Widerstand gegen Helmut Schmidts Nachrüstung als „Sonstige politische Vereinigung“ begann und als „Bündnis 90/Die Grünen“ durchaus einmal erfolgreich war, geht mit dem Angriff der Nato auf Afghanistan seinem unwiderruflichen Ende entgegen. Wie in der Hölle – so auf Erden, wie an der Front – so an der Heimatfront: Im Gefecht bedarf es der Fortüne. Die Fortexistenz der Grünen als linksliberaler Partei hängt seit gestern Nacht von nichts anderem ab als der Zielgenauigkeit US-amerikanischer Bomben und Marschflugkörper – oder, auch wenn es zynisch klingt, von der Reaktionsgeschwindigkeit und dem Überlebensswillen afghanischer Frauen und Kinder. Sollten die Zahlen afghanischer Ziviltoter zu hoch oder die – etwa von al-Dschasira gezeigten – Bilder zu furchtbar sein, sind nicht nur die Tage der Koalition gezählt. Denn die „Kollateralschäden“ genannten Menschenopfer werden es dann dem Gewissen einiger grüner MdBs unmöglich machen, dem Einsatz von Bundeswehrtechnikern in Awacs-Flugzeugen zuzustimmen.

Stimmen die Abgeordneten trotzdem zu, wird die Partei den letzten Rest ihrer Identität verlieren und die Quittung schon bei den Wahlen in Berlin erhalten. Will sie das wirklich mit der Lebenslüge verbrämen, schuld seien nur die „Kollateralschäden“, der Islamismus, die Taliban und natürlich Ussama Bin Laden? Diese Entschuldigung für künftige Wahlniederlagen taugt nicht, solange die Partei bereit ist, ihre Identität auf dem Altar der Nato-Solidarität zu opfern.

Nichtsdestotrotz hat der Länderrat am Wochenende bereits die Lebenslüge der Grünen vorbereitet, indem er beschloss, ein militärischer Einsatz sei gemäß der UN-Charta zulässig. Nur: Der Luftangriff auf Afghanistan ist dieser Charta nachweislich nicht gemäß, auch und sogar dann nicht, wenn die UNO übereinstimmend am 28. September eine Bedrohung des Friedens festgestellt hat. Sich auf Artikel 51 der UN-Charta zu berufen und den USA und ihren Verbündeten das Recht der Selbstverteidigung einzuräumen, würde voraussetzen, dass das Talibanregime im völkerrechtlichen Sinne als Aggressor dingfest gemacht wurde. Dieser Beweis stand und steht aus.

Nun hat das Kriegsvölkerrecht des 19. und 20. Jahrhunderts Verbrechen wie die vom 11. September ebenso wenig vorgesehen wie das absehbare Ende bewaffneter Auseinandersetzungen von Nationalstaaten im Sinne des preußischen Militärdenkers Clausewitz. Es liegt schlicht kein völkerrechtliches Regelwerk vor für die neuen „low intensity wars“, die kaum noch zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden, in denen es auch nicht mehr unbedingt um Geländegewinne, sondern um Destabilisierung und Vertreibung des Feindes bei geringer Feuerkraft geht. Neue Regeln scheinen erst in der Praxis des derzeitigen Krieges zu entstehen.

Die Paradoxie dieses Krieges besteht freilich darin, dass er seiner äußeren Form nach als klassischer clausewitzscher Krieg mit überlegener Feuerkraft, massierter Übermacht und gezielten schweren Attacken auftritt, jedoch keinen völkerrechtsfähigen Gegner mehr kennt. Die Taliban gelten weder als legitime Vertreter des angegriffenen Staates noch als anerkannte, offen Waffen tragende Partisanen, sondern als Verbrecher, die anderen Verbrechern Unterschlupf gewinnen. Im Sinne einer künftigen Weltinnenpolitik könnte es daher nur um den – wenn auch geballten – Einsatz polizeilicher Macht gehen, die indes mit hohen Risiken für jene verbunden sind, die den mutmaßlichen Verbrecher denn tatsächlich fassen wollen. Indem die Strategie Großbritanniens und der USA beides – klassische Schlacht, weltinnenpolitischen, polizeilichen Zugriff – miteinander verquicken, widerrufen sie das, worum es angeblich geht: die Welt als universale Rechtsgemeinschaft.

Die Existenz der Grünen hängt von nichts anderem ab als der Zielgenauigkeit amerikanischer Raketen

Dass ausgerechnet die ansonsten unappetitliche PDS mit ihren ergrauten Stasikadern, altbackenen Stamokaptheoretikern und abgewickelten SED-Funktionären in dieser Situation die Einzige ist, die ein vertretbares Konzept vorzuweisen hat, müsste die Grünen, die wohl doch nie rechts oder links sein wollten, kränken. Nun sind sie, sind wir, weder vorne noch hinten, sondern einfach da, wo alle anderen auch sind: in der Mitte. Um dies zu rechtfertigen, äußert die Basis im Kreisverband in kindlicher Manier schon mal die Auffassung, sich zumal in Kriegszeiten mit Joschka Fischer sicherer zu fühlen als mit einem anderen Außenminister. Als ob – nähme man dieses Gefühl wirklich ernst – der ausdrücklich deutsche, aber nicht grüne Außenminister an der künftigen Unsicherheitslage irgendetwas ändern könnte.

Ob die Partei die Koalition verlassen soll, um authentisch zu bleiben? Es wäre, wie gesagt, egal. Unabhängig davon aber nähert sich bedrohlich jener Zeitpunkt, an dem der Grenznutzen der viel berufenen Verantwortungsethik aufgezehrt ist und Realpolitik genau das heißt, was schon Bismarck immer darunter verstanden hat: das wohlverstandene Interesse des Machtstaats in der Staatenwelt wahrzunehmen. Wer aber wollte dafür – wie gesagt, es geht um Provinzielles –, wenn schon nicht im fernen Hindukusch, so doch in der nächsten Fußgängerzone kämpfen – und sei es auch nur um Wählerstimmen? MICHA BRUMLIK