Die Rückkehr der Mudschaheddin

Nach den ersten US-Angriffen wollen viele Afghanen in Pakistan zu den Waffen greifen. Sie wissen nur nicht so richtig, ob für oder gegen die Taliban

aus Peshawar BERNHARD ODEHNAL

„Ich liebe die Taliban nicht, aber wenn Afghanistan angegriffen wird, müssen wir uns gemeinsam verteidigen.“ Zahed Urrahman Muhles führt einen kleinen Seifenladen in Kharnkho, dem afghanischen Bazar in Peshawar. Vor zwei Tagen noch hatte der 35-jährige so wie viele seiner Kollegen oder Kunden die Taliban zum Teufel gewünscht. Schließlich ist er vor dem Terror der Koranstudenten ins Exil geflüchtet.

Doch seit Sonntagabend, seit die ersten amerikanischen Bomben auf Kabul, Kandahar und Dschalalabad fielen, ist Amerika der große, alle Afghanen bedrohende Feind. Die Taliban scheinen da als das kleinere Übel. Zahed Muhles war einmal Mudschaheddin, kämpfte in der Truppe von Gulbuddin Hekmatjar, der im Bürgerkrieg von 1992 bis 1996 Kabul in Schutt und Asche legte. Zahed Muhles wartet jetzt, dass ihn sein Kommandant wieder ruft. Sollte George W. Bush Bodentruppen schicken, will er Seite an Seite mit den Taliban in die Schlacht ziehen, „und die Konsequenzen für die Amerikaner werden fürchterlich sein“.

Pakistan am Tag danach. Die Regierung und der selbsternannte Präsident Pervez Musharraf waren von den Amerikanern über die bevorstehende Attacke auf Afghanistan rechtzeitig informiert worden und trafen Vorbereitungen. Demonstrationen radikaler islamischer Parteien wurden verboten, Fazlur Rehman, Führer der bedeutenden JUI-Bewegung (Jamiat Ulema-e-Islam), wurde unter Hausarrest gestellt. Musharraf ging noch einen Schritt weiter: Am Tag vor den Angriffen tauschte er die Armeeführung und den Leiter des gefürchteten Geheimdienstes ISI aus. Seine Helfershelfer beim Putsch von 1998 wurden in den Ruhestand geschickt und durch junge, moderate Offiziere ersetzt. Gleichzeitig sichert Militärchef Musharraf durch eine Vergrößerung des Generalstabs seine Macht ab. Solange die Amerikaner nachweisen können, dass sie tatsächlich nur militärische Einrichtungen im Visier haben, kann Musharraf die Wut der pakistanischen Islamisten unter Kontrolle halten.

Peshawar, die Grenzstadt vor dem Khyberpass, ist am Montag voller Polizisten mit Schlagstöcken, Schildern und Tränengaspistolen. Afghanische Studenten wollen am Vormittag von der Universität Richtung Stadtzentrum marschieren, doch die Kundgebung löst sich auf, bevor sie noch richtig begonnen hat. Um 14 Uhr versammeln sich am Khyber-Bazar im Zentrum Mitglieder islamischer Parteien, doch die Polizei ist sofort zur Stellen und der Spuk nach zehn Minuten vorbei. Schlimmer ist es in anderen Städten: In Quetta wird in einer Menge von 4. 000 Menschen ein Demonstrant tödlich von einer Kugel getroffen. Zuvor hatte die Polizei mit scharfer Munition in die Luft geschossen. Die Vertretung des UN-Kinderhilfswerks Unicef wird von Demonstranten angezündet. In der Hafenstadt Karatschi gibt es Verletzte.

Die Empörung und Verzweiflung vieler afghanischer Flüchtlinge ist groß. Viele Afghanen versuchten noch Sonntagnacht oder Montag früh von Pakistan aus ihre Familien in der Heimat telefonisch zu erreichen. Die Nachrichten sind nicht gerade beruhigend: In Kabul sollen die Menschen in Panik auf die Strassen gelaufen und von den Taliban wieder in ihre Häuser getrieben worden sein. Ein junger Afghane erzählt von einem Telefongespräch mit seinen Eltern in Dschalalabad: eine Rakete sei im Stadtzentrum eingeschlagen, viele Zivilisten seien gestorben. Die meisten Bewohner seien in umliegendeDörfer geflohen.

In Peshawar treffen inzwischen ehemalige Mudschaheddin-Kommandanten ein, die von Pakistan aus den Sturz der Taliban organisieren wollen. Mohammed Zama Ghamsharik kam Sonntagabend aus dem französischen Exil. Er ist enger Vertrauter des ehemaligen Königs Zahir Shah und des Stammesführers Ahmed Gailani, der als Premierminister einer neuen afghanischen Regierung gehandelt wird. Kommandant Ghamsharik will seine alte Truppe zusammentrommeln und so schnell wie möglich in Afghanistan Aufstände gegen die Taliban anzetteln.

Die amerikanische Attacke, meint der Mudschaheddin, habe die Taliban geschwächt und sei deshalb gut für Afghanistan. Jetzt müsse mit Hilfe Amerikas und der internationalen Gemeinschaft eine neue Regierung gebildet werden, die alle Afghanen vertrete. Auch moderate Taliban sollten sich daran beteiligen. „Ich hoffe, dass wir Afghanen langsam lernen, unsere Konflikte mit Diskussionen und nicht mit der Kalaschnikow auszutragen.“

Viel wird jetzt davon abhängen, ob moderate Kommandanten wie Ghamsharik oder besonnene Stammesälteste wie Gailani von den Afghanen noch als Autoritäten anerkannt werden. Oder ob sich Kriegstreiber durchsetzen wie Gulbuddin Hekmatjar, der von seinem Exilsitz in Teheran zum Kampf gegen die amerikanischen Invasoren aufruft.

Die afghanischen Flüchtlingen in Kharnkho würden am Montagvormittag sofort mit Hekmatjar in die Schlacht ziehen. Aber in der ersten Erregung spielt jeder gerne den Helden. Und vielleicht ist die Empörung deshalb so groß, weil die Afghanen selber nicht wissen, wie es weitergehen soll. Ihre Lösungsvorschläge sind voller Widersprüche. „Jede ausländische Macht gilt für uns als Feind“, sagt ein 22-jähriger Student aus Kabul, „es muss eine friedliche Lösung geben, mit einer Regierung der nationalen Einheit und dem Schah an der Spitze.“

Wie aber soll eine neue Regierung eingesetzt werden, wenn die Taliban an der Macht sind? Und wie sollen die Taliban gestürzt werden, wenn keine Gewalt angewendet werden darf? Am Bazar von Kharnkho gibt es keine Antworten, nur simple Erklärungen. Der Kampf der Religionen spielt darin eine zentrale Rolle: Präsident Bush habe einen „Kreuzzug“ begonnen, um die Verhaftung der acht Mitarbeiter der christlichen NGO „Shelter now“ in Kabul zu rächen. Die Amerikaner hätten mit Macht und Erpressung fast die gesamte Welt, inklusive der islamischen Länder, zum Gehorsam gezwungen. Auch die UNO, die tausende Tonnen Lebensmittel nach Afghanistan bringt, werde von den Amerikanern kontrolliert. Und natürlich auch Pakistan und die Nord-Allianz. Aus dieser Perspektive ist es freilich schwer, überhaupt noch Verbündete auszumachen. „Ja, wir Afghanen wurden oft betrogen, sagt der Seifenverkäufer Zahed Muhles, „wir sind jetzt Waisenkinder. Nur noch Gott ist auf unserer Seite.“

Berhard Odehnal ist Auslandsredaktor der Zürcher Weltwoche