Mädchen mit Haifisch

Evelyn Roll hat ein furioses Porträt von Angela Merkel geschrieben – und zugleich ein Sittengemälde des permanent überhitzten Politikbetriebes

Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält

von JENS KÖNIG

Angela Merkel hat vor ein paar Tagen wieder einmal eine Lektion verpasst bekommen. Die CDU-Chefin wollte mal eben so nebenbei das Grundgesetz ändern und die Bundeswehr auch im Innern des Landes einsetzen. Sie ist mit dieser Forderung im Präsidium ihrer Partei auf Widerstand gestoßen. Anschließend stand Angela Merkel vor der Presse, sie hatte ihr inzwischen berühmtes Ich-weiß-gar-nicht-was-Sie-von-mir-wollen-Gesicht aufgesetzt und sprach nicht etwa davon, dass sie mit ihrem Vorschlag grandios gescheitert sei. Nein, sie guckte ganz arglos und etwas doof in die Kameras und sagte, in den Parteigremien hätte es „kontroverse Diskussionen“ gegeben.

Na also, wo ist das Problem?

Nach diesem Ereignis war es nur eine Frage der Zeit, bis die erste Zeitung wieder schrieb: Angela Merkel kann es nicht. Die CDU-Chefin hat keinen Führungswillen. Sie geht zu viele Kompromisse ein. Keiner weiß genau, was sie eigentlich will.

Da ist das Problem.

Meistens schließen sich an diese Vorwürfe ganz grundlegende Fragen: Was ist Angela Merkel überhaupt für eine Frau? Wie macht sie Politik? Worin besteht ihr Geheimnis, dass sie im persönlichen Umgang so ganz anders wirkt als im Fernsehen? Ist bei ihr alles nur Tarnung? Warum wurde ausgerechnet diese Pfarrerstochter aus dem Osten zur Hoffnungsträgerin der CDU?

Evelyn Roll, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, hat sich diese Fragen auch gestellt, und eine entscheidende noch dazu: „Was hat die Macht seither aus dem Mädchen gemacht und was das Mädchen mit der Macht?“ Sie hat ein Buch geschrieben, das sich genau um diese Fragen dreht. Es heißt zwangsläufig „Das Mädchen und die Macht“.

Dem Buch stellt Evelyn Roll ein Zitat von Max Frisch: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält. Oder eine ganze Reihe von Geschichten.“ Das fängt ja gut an, denkt man, die Merkel hat also auch an ihrer Legende gebastelt. Und tatsächlich erzählt Roll einige Geschichten aus Angela Merkels früherem Leben, an die sich die Parteivorsitzende heute nicht mehr so gern erinnert. Vielleicht erkennen manche ihrer früheren Freunde sie deswegen nicht wieder.

Aber je mehr Evelyn Roll von ihrer Figur erzählt, desto deutlicher wird, dass die Angela Merkel von früher sehr viel mit der Angela Merkel von heute zu tun hat. Sie sei immer schon von außen gekommen, aus einer anderen Welt, schreibt die Autorin über Merkel, also musste sie die Regeln der ihr fremden Menschen analysieren und durchschauen. Und: Sie musste besser sein als alle anderen. Dieses Muster aus ihrer Kindheit habe Angela Merkel stets wiederholt. Als Tochter eines Pfarrers in der Schule in Templin, als Physikerin in der Männerwelt der Akademie der Wissenschaften der DDR, als politischer Nobody unter lauter Bürgerrechtlern in der Wendezeit, als Kohls Mädchen in der fremden Welt in Bonn, als unerfahrene Parteivorsitzende im Haifischbecken von Berlin.

Dieses Außenseitertum, dieser unsichtbare Zwang, es immer besser machen zu müssen, ist Merkels Schwäche. „Manchmal macht sie es gerade deswegen schlechter“, schreibt Roll. Merkel hat sich hinter der Mauer ein idealisiertes, fast romantisches Bild von der Demokratie zurechtgebastelt, das ihr in der eher traurigen Wirklichkeit oft im Wege steht. Das Außenseitertum ist aber zugleich Merkels Stärke. „Das ist der Vorteil derer, die von außen dazugekommen sind“, so Roll. „Sie merken noch was.“ Sie sind in historischen Ausnahmesituationen sogar in der Lage, Denkmäler, die von allen um einen herum noch angebetet werden, vom Sockel zu holen.

Diese Fairness, die Evelyn Roll gegenüber Angela Merkel aufbringt – dabei handelt es sich letztlich nur um journalistische Genauigkeit –, ist selten geworden im politischen Berlin. Da ist die CDU-Vorsitzende entweder eine Hoffnungsträgerin oder ein hoffnungsloser Fall. Roll schreibt kühl, aber doch mit Wut im Bauch, woran das im Fall Angela Merkel liegt: weil hier fast nur Westler über eine Ostdeutsche schreiben, fast nur Männer über eine Frau, fast nur Journalisten, die selbst Teil des politischen Betriebs sind, über eine Politikerin aus einer anderen Welt.

Plötzlich bekommt auch das Eingangszitat von Max Frisch einen ganz anderen, viel umfassenderen Sinn. Es erinnert uns daran, dass wir alle Geschichten erfinden – nicht nur unsere eigenen, sondern mit besonderer Vorliebe Geschichten über andere, und diese Geschichten halten wir dann für das wahre Leben. Davon ist Angela Merkel genauso betroffen wie Gerhard Schröder oder Gregor Gysi.

Evelyn Roll hat ein bezauberndes Buch geschrieben. Es ist keine wichtigtuerische Biografie, sondern ein leichtes Porträt von Angela Merkel. Und fast nebenbei ist der Autorin auch ein Sittengemälde des permanent überhitzten, von den Medien beherrschten Politikbetriebs in der Berliner Republik gelungen. Das Buch ist eine Mischung aus einer brillanten Seite-Drei-Reportage der Süddeutschen Zeitung und einem furiosen Essay im Politikteil. Quasi Herbert Riehl-Heyse und Heribert Prantl in einem.

„Angela Merkel kämpft“, schreibt Evelyn Roll. „Sie bewegt sich. Sie hält alle Optionen offen. Sie hat das Spiel mit der Macht verstanden. Sie hat auch noch nicht verloren.“ Vielleicht gewinnt sie am Ende sogar, wer weiß. Vielleicht hat Angela Merkel schon dieses Buch gelesen. Es könnte ihr geholfen haben.

Evelyn Roll: „Das Mädchen und die Macht. Angela Merkels demokratischer Aufbruch“. Rowohlt, Berlin 2001, 304 Seiten, 39,90 DM (19,90 €)