Kein staatstragendes Projekt

Die Geschichtsforschung entdeckt immer mehr das „populäre Gedächtnis“. Beispielhaft dafür ist das große Werk „Deutsche Erinnerungsorte“, herausgegeben von Etienne François und Hagen Schulze

Die ausgewählten Erinnerungsorte reproduzieren einen Kanon der Hochkultur

von CLAUS LEGGEWIE

Die Herausgeber und der Verlag C. H. Beck haben mit den drei Bänden „Deutscher Erinnerungsorte“ einen großen Wurf gelandet. Mit seiner assoziativen und bewusst fragmenthaften Sicht auf die kollektive Identität der Deutschen ergänzt das Werk ausgesprochen originell und weiterführend die großen Monografien des Verlages. Als Herausgeber fungiert ein deutsch-französisches Tandem, der in Berlin lehrende Historiker Etienne François und Hagen Schulze, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London. Nimmt man hinzu, dass die Idee in Warschau geboren sein soll, ist der Anspruch erkennbar, deutsche „Erinnerungsorte“ von vornherein auch aus der Perspektive der europäischen Nachbarn zu entwickeln – nicht zuletzt, wenn die Orte heute außerhalb von Deutschland liegen.

Der Begriff „Ort“ wird meist allerdings nicht nur topografisch verstanden, wie etwa die Einträge des Kapitels „Identitäten“ am Ende des Werkes zeigen: „Germania“, „Arminius“, „Faust“, „Friedrich der Große“, „Vornamen“, „Der Kulturbunker“, „Die Nationalsymbole“ und „Beethovens Neunte“. Schon die Titel bestätigen das einleitende Statement: „Dies ist kein sinnstiftendes oder staatstragendes Projekt“, also keine Nationalgeschichte der Berliner Republik, sondern ein „breit gefächertes und offenes Inventar der deutschen Gedächtniskulturen“. Es schließt damit an die Vorgabe des französischen Historikers Pierre Nora an. Dieser hat in den vergangenen Jahren das noch voluminösere Werk „Les lieux de mémoire“ vorgelegt, in dem Bruchstücke des französischen Nationalgedächtnisses ausgebreitet wurden, ohne die übliche chronologisch-lineare Anordnung oder einen übergreifenden Ansatz (etwa den der Gesellschaftsgeschichte). Diesem bahnbrechenden Unternehmen folgten in einem breiten Wissens- und Methodentransfer ähnliche in anderen europäischen Ländern, aber es wurde auch Kritik laut, die in das deutsche Werk eingeflossen ist. Noras Gliederung (Republik, Nation, Diversität) taugte nicht, seine geschichtspolitische Ambition noch weniger, denn das nationale Gedächtnis Deutschlands lässt sich nicht so bruchlos inventarisieren.

Die Autoren des deutschen Projekts haben in ihren 121 Beiträgen die Konstruiertheit der Erinnerungsorte deutlicher herausgearbeitet und damit unterstrichen, dass die Geschichtsforschung sich wegbewegt von dem, „wie es gewesen ist“, hin zu dem, wie Gewesenes erinnert und rekonstruiert wird. So tritt neben die klassische Geschichtswissenschaft, die stets eine sinnstiftende Rolle beansprucht hat, das populäre Gedächtnis, und die historische Forschung selbst wird reflexiv. Wer heute etwa die Gedenkstätte Buchenwald besucht, wird dort nicht nur auf Überreste der dortigen Ereignisse zwischen 1934 und 1950 treffen, sondern vor allem Dokumente entdecken, wie dessen seit 1945 in den beiden deutschen Staaten gedacht wurde.

Buchenwald ist übrigens ein realer „Erinnerungsort“, der in dem Werk fehlt. Andere wie der Kölner Dom sind unter unerwarteten Überschriften versteckt. Überhaupt nehmen die Herausgeber und Autoren die topografische Dimension, an der sich Erinnerung festmacht, nicht allzu ernst. Will man dies nicht, entleert sich der Begriff des Ortes jedoch zur bloßen Metapher – und in diesem Werk tauchen deshalb alle möglichen „Orte“ auf. Nicht nur Canossa, Nürnberg, Weimar oder Versailles, sondern auch Auschwitz, Whyl, Oberammergau. Und weiter: der Wiener Heldenplatz, der Führerbunker, die Mauer oder Topoi wie „der deutsche Wald“ und der Schrebergarten. Zudem werden behandelt (um nur ein paar Beispiele zu nennen):

Personen – von Karl dem Großen, Bismarck und Goethe über Nietzsche, Napoleon und Wagner bis zu Rosa Luxemburg, Königin Luise und Marlene Dietrich;

Gruppen und Institutionen – Auslandsdeutsche und Junker, Stasi und Hanse, Bundesliga und das Bauhaus;

literarische Werke – das Nibelungenlied, Madame de Staëls „De l’Allemagne“ und der Duden ebenso wie „Faust“, „Jud Süß“ und „Professor Unrat“;

Redewendungen – „Am deutschen Wesen. . .“, „Frisch, fromm, fröhlich, frei“, „Blut und Boden“;

Kunstwerke und Ausstellungen – Der Bamberger Reiter, Documenta I;

Musik – Hausmusik, Schlager, Beethovens Neunte;

Symbole – Freiheitsglocke, Pickelhaube;

Historische Ereignisse, Prozesse und Schlagworte – Westfälischer Frieden, Türken vor Wien und Kniefall;

Feste und Rituale – Weihnachten, Feierabend und Mahnmale.

Es geht mehr um Mythen, Diskurseund Symbole alsum reale Orte

Womit man wieder bei realen Orten und Überresten ist, die hier aber auch nur in übertragener Bedeutung, im Blick auf ihre Wirkung und Akzeptanz, betrachtet werden. Wo man den deutschen Begriff „Pflicht“ einordnen soll, weiß man nicht, am besten passt er wohl zu den achtzehn Oberbegriffen, unter welche die Herausgeber die Stichworte angeordnet haben. Auch sie sind nicht chronologischer Natur, sondern eher Gattungsbegriffe, die teilweise sehr deutsch sind: Dichter und Denker, Volk, Erbfeind, Schuld, Gemüt, Heimat – oder summarischer: Romantik, Moderne, Revolution. Daraus ergeben sich jede Menge Bündelungen und Querverweise, die dem Leser nicht aufgezwungen werden, sondern eigener Kombinationsgabe und Intuition überlassen bleiben. Jedem können natürlich andere „Orte“ einfallen, und der an das Werk gerichtete Vorwurf des Eklektizismus ist nicht von der Hand zu weisen.

Letztlich fallen Unausgewogenheiten im Detail dem Gesamtwerk nicht zur Last. Denn wenn man zu Recht der Auffassung ist, dass es einen Kanon nicht mehr geben kann, wäre er hier erst recht verfehlt. Dank der inspirierenden Freizügigkeit (und wohl auch peniblen Redaktionstätigkeit) der Herausgeber und ihrer Mitarbeiter ist eine Reihe ausgezeichneter Essays versammelt, die unmöglich im Einzelnen besprochen und deren Spitzen auch nicht gesondert hervorgehoben werden sollen. Die hervorragende Lesbarkeit und durchgängige Allgemeinverständlichkeit des Buches haben sowohl Fachleute besorgt, die ihre Spezialforschungen einem breiten Publikum zur Kenntnis bringen, wie Essayisten, die mutig Bezüge über die Epochen und Generationen hinweg skizzieren, ohne dabei den Boden der historischen Empirie unter den Füßen zu verlieren.

Dennoch kann die seltsame Ortlosigkeit der Erinnerungsorte nicht nur traditionelle Erdkundler irritieren. Es ist viel stärker von Mythen, Diskursen und Symbolen die Rede als von Orten, und deshalb leuchten mir auch jene Beiträge am stärksten ein, die einen territorialen oder materialen Bezug erkennen lassen, ohne sich darin andererseits zu vergraben. Was bei aller Freiheit der Auswahl ein Manko sein dürfte, ist die Vernachlässigung der sozialen Frage, die höchstens in biografisch fundierten Porträts oder im Gruppenporträt der „Junker“ vorkommt – als habe die deutsche Arbeiterbewegung, darunter die „stärkste der Parteien“, keine erinnerungskulturelle Tiefendimension oder sei die republikanische Tradition jenseits der Paulskirche ohne Belang – und sei es in der pervertierten Tradierung durch die DDR. Nicht dass man einen deutsch-deutschen Proporz anmahnen müsste, aber der Siegeszug der westdeutschen Geschichtswissenschaft muss nicht die Chance verspielen, ein und denselben Ort wenigstens exemplarisch im Licht der „zwei Vergangenheiten“ zu betrachten, was hier durchgängig fehlt. Auch dass unter den „großen Deutschen“ ganze vier Frauen (plus Uta von Naumburg) zu finden sind (und nicht einmal die „Trümmerfrauen“), muss moniert werden, ganz abgesehen davon, ob es nun p.c. ist oder nicht.

Und ein letzter kleiner Einwand. Die Auswahl der Orte und ihre Beschreibung überrascht (trotz fehlendem Kanon) kaum: Es wird an das populäre Gedächtnis appelliert, als ob die populäre Massenkultur erst in den Fünfziger- oder Siebzigerjahren begonnen hätte. Doch sie beherrscht das kollektive Gedächtnis weit stärker, als es in diesem Werk zum Ausdruck kommt, das daher letztlich einen Kanon der Hochkultur reproduziert. Diese Haltung wird auch dadurch deutlich, dass Bilder als bloße Illustration genutzt werden; auch historische Bildwelten werden wie Texte gelesen und nicht in der Eigenständigkeit begriffen, die sie im populären Gedächtnis zweifellos besitzen. Den Herausgebern sind solche Beschränkungen bewusst: Sie müssten sich als Historiker auf solche Ausdrucksformen des kollektiven Gedächtnis beschränken, „die bereits seit einiger Zeit bestehen und völlig ausgeformt sind“. Diese Begründung ist unzureichend. Angesichts der Tatsache, dass sich schon die nächste Generation von Medien durchzusetzen beginnt, dürfte die Ausformung mittlerweile ausgereift genug sein, um sich auch diesem Feld zu öffnen und beispielsweise die „Tagesschau“ oder Elvis (in Bad Nauheim) als Erinnerungsort einzufügen.

Dem Rezensenten sind mehr Beispiele eingefallen, aber selbst die Lücken regen die Fantasie geneigter Leser höchst erfreulich an. Wenn laut Nietzsche der Mensch das Tier ist, das nicht vergisst, bekommt es mit diesem Werk üppige Nahrung.

Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): „Deutsche Erinnerungsorte“, C. H. Beck, München 2001, Bd. I, 728 Seiten, Bd. II, 740 Seiten, Bd. III, 740 Seiten, je Band 68 DM (34,90 €)