Lass dir bloß keine 0 für eine 1 vormachen

Neal Stephenson erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu, aus der Perspektive von Hackerdenken und Computertechnik: „Cryptonomicon“

Der Hacker als die zeitgemäße Version des kritischen Intellektuellen

von TOBIAS RAPP

Es gibt Bücher, die sieht man und vergisst sie nicht wieder. Man beobachtet, wie sie bei Geburtstagen jemandem mit Verschwörerblick in die Hand gedrückt werden, in Editorials von Zeitschriften wird ihr Titel gedroppt. Es gibt sie nur auf Englisch und notorische Bescheidwisser lassen in Nebensätzen fallen, dass sie sich dieses Buch haben kommen lassen, das in Amerika gerade jeder liest – Sciencefiction ohne Zukunft, etwa so als hätte Pynchon programmieren gelernt, eigentlich geht’s aber um Verschlüsselungstechnik, voll irre.

Kürzlich ist die deutsche Übersetzung von Neal Stephensons „Cryptonomicon“ erschienen und das Buch sieht genauso aus wie das amerikanische Original: wie das aus den Fugen geratene Booklet einer Gothic-Metal-Band. Das hat seinen Grund. Denn quer durch die verschiedenen Zeitebenen des Romans taucht immer wieder ein Buch auf – das titelgebende „Cryptonomicon“. Ein Kompendium der Verschlüsselungstechnik, entstanden im 17. Jahrhundert, aber von jedem Leser weitergeschrieben und mittlerweile kein einfach zuzuordnender Text mehr, sondern eine Sammlung verschiedenster kryptografischer Anwendungen. Ein Buch, das mal auf amerikanischen Dachböden gefunden wird und mal in japanischen Luftschutzkellern. Und der Roman selbst setzt dies noch fort, durch einen Anhang mit der Anleitung zu einer Verschlüsselungstechnik namens Solitaire.

Es geht also um Kryptografie. Die Schlüsseltechnologie des Informationszeitalters – das, was alle wollen und brauchen, die in den verschiedenen Abteilungen der Welt das Sagen haben: Groß- und Offshore-Banken, Militär und Geheimdienste jeder Fahne. Das, womit derjenige, der darüber verfügt, bestimmen kann, wer wann was weiß. Gleichzeitig ist es natürlich auch genau das, was im Zentrum der Hackerkultur steht und dabei eine denkbar große Schnittmenge mit dem hat, was man in unseren Breiten ganz unhip Datenschutz nennt. Kryptografie betrifft jeden, und wenn man sich dieses Buch nur online bestellt und dafür seine Kreditkarte benutzt.

Auf den ersten Blick ist „Cryptonomicon“ ein Hackerroman. Ein Roman, der den Hacker als universales Role-Model für denjenigen in die Literatur einführt, der sich keine 0 für eine 1 vormachen lässt, eine kalifornische Endneunzigerversion des kritischen Intellektuellen. Und die Reihe der Hacker in „Cryptonomicon“ reicht von Archimedes und Daedalus bis zu den beiden Protagonisten des Romans, Lawrence Waterhouse und sein Enkel Randy.

Das ist nichts Ungewöhnliches für Stephenson. Ob in seinem Cyberpunkroman „Snow Crash“ oder der Nanotech-Gothicnovel „Diamond Age“ – stehts stand eine Hackerfigur und ihr Verhältnis zur Macht im Mittelpunkt. Doch „Cryptonomicon“ erzählt nicht von den Keimen des Morgen im Heute: Es geht darum, der scheinbar so geschichtsvergessenen Cybergegenwart eine Vergangenheit zu geben. Stephenson versucht nicht weniger, als die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal neu zu erzählen, aus der Perspektive des Computerkaliforniens der späten Neunziger. Denn Computertechnologie ist Kriegstechnologie und ohne den Krypto-Krieg zwischen den Deutschen und den Alliierten um die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma hätte sich die Entwicklung all dieser Maschinen, vor denen wir heute sitzen, niemals so sehr beschleunigt. „Cryptonomicon“ erzählt von der Geburt der Informationstechnologie aus dem Geist des Zweiten Weltkriegs und beschreibt diesen Krieg als Infowar.

Da gibt es also Lawrence Waterhouse, einen ziemlich unbedarften jungen Mann, der aber einen begnadeten Blick für Zahlenreihen hat. Im Princeton der Dreißiger studiert er Mathematik, zusammen mit Alan Turing, dem Erfinder der gleichnamigen Maschine und Blueprint aller Computer, und einem Deutschen namens Rudolf von Hacklheber. Der Zweite Weltkrieg bricht aus, Hacklheber kehrt nach Deutschland zurück, um an der Verschlüsselungscodes der deutschen Nachrichtensysteme zu arbeiten, und Waterhouse wird als Verbindungsoffizier nach England geschickt, um eben diese zu knacken.

Infowar heißt aber nicht nur, die Hardware des Gegners zu verstehen und seine Software zu entschlüsseln, es heißt genauso zu verschleiern, dass man weiß, was der andere weiß. Und so surft Stephenson durch alle wichtigen Daten des amerikanischen Kriegs im Südpazifik: den Angriff auf Pearl Harbour, die Schlacht von Guadalcanar, den Verlust und die Rückeroberung von Manila. General Douglas MacArthur hat mehrere Gastauftritte, genau wie Ronald Reagan, außerdem geht es um die japanische Besetzung von Schanghai und um den deutschen U-Boot-Krieg.

Parallel dazu sitzt im Kalifornien der späten Neunziger Randy Waterhouse, der Enkel von Lawrence. Randy ist ein ziemlicher Nichtsnutz, der die Achtziger vor Computern verdaddelt hat, anstatt zu studieren. Das hat ihm zwar eine Reihe von Engagements bei diversen Garagenfirmen eingebracht, aber im Unterschied zu seinen Kumpels von damals, die jetzt Paläste in der Größe von Flugzeughangars bewohnen, hat Randy seine Anteile an diesen Start-ups immer zu früh verkauft oder zu spät, oder sie sind irgendwelchen Rechtsstreitigkeiten zum Opfer gefallen. Randy und ein Freund gründen ein Unternehmen, mit dem sie versuchen, im Südpazifik einen Datenhafen jenseits des Zugriffs staatlicher Kontrollen einzurichten – eine Idee, in der Stephenson wie in einem Brennglas all die Phantasmen und Ideen bündelt, die durch das zeitgenössische Hackerkalifornien geistern: die Angst vor jeder Art von staatlicher Kontrolle, der Glaube daran, dass wenn jeder frei über seine Informationen verfügen könnte, eigentlich alle Probleme gelöst wären und nicht zuletzt die Paranoia, der Staat oder irgendwelche Großkonzerne seien gerade dabei, einen zu überwachen, um einem entweder Verstöße gegen irgendwelche Gesetze anzuhängen, oder um einem die Idee zu klauen.

Nun ist Stephenson selbst ein Hackerautor. Nicht nur, dass er in den frühen Neunzigern mit „Snow Crash“ einen Roman geschrieben hat, der detailliert und treffgenau die virtuelle Realität beschrieb. Er hat auch ein Buch über Computerbetriebssysteme geschrieben, über Open Source und all die Dinge, die damit zusammenhängen. Er weiß also, wovon er schreibt. Und wenn man den Abenteuern seines Protagonisten Randy folgt, so meint man nicht selten Stephenson vor sich zu haben, nicht zuletzt, weil „Cryptonomicon“ durch eine Reportage für das Internetmagazin Wired inspiriert wurde, für die Stephenson quer durch den Pazifik die Verlegung eines transpazifischen Hightech-Telefonkabels verfolgte.

Doch trotz dieser Technikbesessenheit und Akkuratesse, mit der Stephenson technische Details ausbreitet, und auch trotz all dem Raum, den er etwa einer militanten Graswurzelhackergruppe wie den Secret Admirers einräumt: Das Bild was „Cryptonomicon“ von der Gegenwart und ihrer neuentdeckten Infovorgeschichte zeichnet, geht über das hinaus, was man als kalifornische Ideologie kennt. Denn auch wenn die politische Utopie des Buchs darauf hinausläuft, dass alles gut werden könnte, würde man nur den gesamtgesellschaftlichen Datentransfer demokratisieren, die Geschichte des Romans spricht eine andere Sprache. Denn jenseits aller übergreifenden Ideen und Entwürfe, auch aller persönlichen Verstrickungen sind es die Geldströme, die die beiden Zeitebenen miteinander verbinden und sich mit den Datenströmen überlagern, Goldströme genauer gesagt, denn das Buch dreht sich nicht zuletzt um die Suche nach dem legendären Nazigold.

Neal Stephenson: „Cryptonomicon“. Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl. Manhattan Verlag, München 2001,1.180 Seiten, 58 DM