Debüt einer Spielerin

Das Bewusstsein austricksen: Julia Schoch und ihr Erzählungsband „Der Körper des Salamanders“

Zu Jackie Chan kannst du heute mit einem Handke-Buch in der Tasche gehen

von ANTJE RÁVIC STRUBEL

Die Zigaretten kommen auf einem weißen Teller, Marlboro light, aber sie raucht nur gelegentlich. Sie trägt Schwarz heute und keinen Hut. Der Hut gehört zur Pferderennbahn, nicht in den Potsdamer Havelgarten, wo das Würzfleisch noch schmeckt wie im Osten. Zur Pferderennbahn geht sie manchmal mit Freunden an Geburtstagen, verwettet eine Hand voll Fünfmarkstücke, trägt Hut und lässt sich gern mit französischen Filmschauspielerinnen verwechseln. Manchmal träg sie auch Grün und lange, eng anliegende Röcke, mischt sich auf Ska-Konzerten unter die Skins, und manchmal tanzt sie zu rumänischer Volkmusik.

„Säuft wie ’n Bauarbeiter und redet wie Goethe“, soll mal jemand von ihr gesagt haben.

Julia Schoch ist 27 Jahre alt. In ihrem Debüterzählungsband „Der Körper des Salamanders“ ist Wirklichkeit ein Synonym für Inszenierung. Nichts sei schlimmer in der Literatur als der Realismus, sagt Schoch. Der Wind bläst ihr das Streichholz wieder aus. „Siehst du!“, sagt sie lachend, und wir reden eine Weile über Peter Handke. An seinen Texten schätzt sie etwas, was sie selbst perfektionieren möchte: die Konstruktion.

Konstruieren wir also: Julia Schoch sei in Bad Saarow geboren und in Eggesin am Oderhaff, einer Armeehochburg, zwischen NVA-Soldaten und auf dem Pulversand militärischer Übungsplätze aufgewachsen. Nehmen wir an, sie wäre als Zwölfjährige bei ihrem Umzug nach Potsdam erstaunt gewesen, dass es auch eine zivile Welt gab, und wäre später für die Sportschule ausgewählt worden, weil sie so klein war, dass sie den Ruderern von „Dynamo“ als Steuerfrau gut in den Bug passte. Das mag alles ebenso stimmen wie das Studium der Germanistik und der französischen Philologie an der Universität Potsdam, wo sie jetzt französische Literatur unterrichtet.

Während Julia Schoch das dritte Streichholz anreißt, sagt sie: „Du kannst doch heute alles gleichzeitig sein. Zu Jackie Chan mit einem Handke-Buch in der Tasche gehen. Das ist postmodern und entspannend!“

Zur Inszenierung gehört auch der utopische Gedanke, der Glaube daran, dass Wirklichkeit in eigener Regie erst herstellbar sei. Aber Julia Schoch war 15, als die Mauer fiel. Man sollte meinen, sie wäre geprägt vom Verlust jeglicher Utopien, schießlich hat sie den gesellschaftlichen Umbruch nicht nur als abstrakte Debatte miterlebt.

Julia Schoch nickt. „Die Utopie ist natürlich grundsätzlich weggebrochen“, sagt sie. „Aber man braucht sie. Also muss man sie spielen. Heiner Müller hat das nach der Wende gemacht. Er konnte das noch, weil er immer den marxistischen Gedanken im Hinterkopf hatte. Aber für uns ist der Verlust der Ausgangspunkt des Denkens. Das Einzige, was wir tun können, ist, die Utopie im Bewusstsein, zu spielen, dass wir sie spielen. Man müsste nur das Bewusstsein austricksen können, damit es irgendwann nicht mehr merkt, dass es spielt.“

Aber um das Bewusstsein auszutricksen, muss zuvor eine gesteigerte Bewusstwerdung stattfinden. „Ich denke mehr, als ich schreibe“, sagt Schoch, „ich denke jahrelang.“ Und sie sei nicht Malerin, sondern letztendlich Schriftstellerin geworden, konstatiert sie nüchtern, weil es jederzeit und an jedem Ort problemlos möglich sei, dieses Denken auch in Sprache zu übersetzen.

Daraus hat sich ein langsames Arbeiten entwickelt, ein vorsichtiges Tasten von Satz zu Satz. Aber wenn der Satz einmal steht, wird nichts mehr gelöscht. „Jeder Satz muss etwas Reines haben“, erklärt sie, „wie ein von aller Borke befreiter Ast.“

Heiner Müller und Peter Handke sind die zwei Pole ihres Denkens. Der eine, der ungerührt nach 1989 die marxistische Utopie im Leerlauf weiterdreht, der andere, der erklärt unengagiert das Scheitern zum Thema seines Schreibens macht. Irgendwo dazwischen entwickelt Schoch eine eigene Poetologie, für die es noch keine Vorbilder gibt. „Ich will von der Machbarkeit der Liebe und der Inszenierbarkeit des Glücks schreiben“, sagt sie gelassen und zündet sich eine neue Zigarette an. „Und zwar will ich dabei nicht aus dem Leid, sondern aus dem Glück heraus erzählen.“

Antihelden wird man in ihrem Erzählband nicht finden. Auch wenn es da einmal um Kaatsch geht, den Penner mit den Sonntagsjacketts, die nicht vom Tragen, sondern vom vielen Waschen abgenutzt sind. Die Figuren ihrer Erzählungen sind immer Ergebnisse einer exakten Berechnung aus Beobachtung und dem Willen zur Form, die einen Gedanken möglichst hautnah umschließen soll. Das Material ihres Schreibens findet Julia Schoch überall und nebenbei. Als Austauschstudentin des DAAD verbrachte sie zwei Semester in Bukarest, der Hauptstadt eines Landes, das sie als streng religiösen Bauernstaat empfand und wo ein anderer Zeitrhythmus herrschte. „Man hat Dinge, die man hier in einer Stunde nebenbei erledigt, dort manchmal lang gestreckt auf eine Woche.“ Wäsche wurde im Bottich gewaschen, das Einkaufen wurde zum Tagesjob. Diese rumänische Langsamkeit wird in einer der Geschichten nun zur Folie der Suche nach einem Prinzip, das hinter dem Zufall des Spiels steckt.

Für eine andere Geschichte, diesmal über die Wahrheit der Illusion, extrahierte sie die Substanz aus ihren Beobachtungen, die sie in einem Nebenjob als Filmvorführerin im „Melodie“ – einem kleinen Potsdamer Kino – machte. Vom Kino im Allgemeinen wünscht sie sich neue ästhetische Programme, die dänischen Dogma-Filmer haben ihre volle Sympathie. Denn zum Bewusstsein des Spiels gehört es auch, sich all seinen Konsequenzen auszusetzen. „Die Spaßkultur nimmt das Spiel dagegen nicht ernst. Sie vertuscht nur, dass es so, wie es jetzt ist, schon längst nicht mehr geht. Das siehst du doch beim amerikanischen Kino. Die Leute halten es nicht mehr aus, wenn ein Film kein Happy End hat oder wenn er nur bedrohlich ist. Man muss sich den Dingen aber aussetzen, erst dann ist man frei.“

Was sie meint, ist nicht die freie Assoziation oder die Zerschlagung jeglicher Formen. Worum es ihr geht, ist vielmehr die höchstmögliche Konzentration auf ästhetische Prinzipien, die man aus dem, was sich täglich als Realität anbietet, filtern kann. Da sieht sie zwischen Leben und Schreiben keinen Unterschied.

„Ich will von derMachbarkeit der Liebe und der Inszenierbarkeit des Glücks schreiben“„Die Spaßkulturvertuscht nur, dass es so,wie es jetzt ist,längst nicht mehr geht“

So ist ihr Erzählband auch entsprechend dem gewidmet, „mit dem Leben (Kunst) begann“. Erste Voraussetzung, um das auszudrücken, sind Texte, die sich anhören wie ein Buch, nicht wie das Leben. „Die Figuren dürfen nicht sein wie du und ich“, sagt Julia Schoch und sieht über die Havel, die sie früher im Ruderboot befahren hat.

Ihr Blick geht hinüber auf die andere Uferseite, dann weit zurück in die Vergangenheit. „Sprints haben mich damals interessiert, wegen der unerwarteten Wendungen in so einem kurzen Zeitraum“, sagt sie, und wenn sie davon spricht, dann ist nicht mehr klar zu unterscheiden, ob sie über eine der Figuren redet oder über sich selbst. „Wie mehrere Leute ein gemeinsames Ziel anstreben.“

Dann erwähnt sie, dass gerade die Lottozahlen ermittelt würden. Auch das ein Spiel, hinter dem ein Prinzip vermutet werden kann. Wenn sie rechtzeitig Lottomillionärin geworden wäre, hätte sie zuerst das Kino „Melodie“ gerettet. Stattdessen wird sie nach unserem Gespräch an ihren Schreibtisch zurückkehren, wo sie bereits an einem Roman sitzt. Auch das wird ein schmaler Text bleiben, in Schranken gehalten und vor jeglicher Geschwätzigkeit bewahrt vom langsamen Gang des Denkens. Es ist ein Schreiben gegen die Zeit.

Denn vorerst bleibt ihr nur noch eine Woche. Dann muss sie das neue Semester vorbereiten und ein erstes Konzept der Dissertation vorlegen, in der sie sich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, eingebettet in Überlegungen zu gesellschaftlichen Utopien. „Bevor ich schreibe, muss ich genau wissen, was ich machen will. Sonst wird der leere Bildschirm zu der Leere, die hinter allem steckt“, sagte sie in die Havelferne. „Aber man muss sich dem Beklemmenden aussetzen.“

Sie verstaut die Marlboro lights in der Tasche. Der weiße Teller geht leer zurück. Aber schon scheint sie wieder beim Pferderennen oder den Lottozahlen oder dem geglückten Roulette-Einsatz bei ihrem letzten Besuch im Spielcasino zu sein. Und wenn man ihr so zuhört, möchte man glauben, dass es ganz einfach ist mit dem Austricksen des Bewusstseins.

Julia Schoch: „Der Körper des Salamanders“. Piper Verlag, München 2001, 174 Seiten, 29,79 DM