Infinite Justice

■ Tim Ingolds große Amerika–Serie, siebenter Teil. Heute: Der wilde Süden

Vor einigen Jahren recherchierte ich im Auftrag eines deutschen Anglermagazins in Texas für einen Bericht über die Catfish-Fischerei. Zu diesem Zweck war ich in Jacksonville, das nicht mit der Hafenstadt in Florida zu verwechseln ist, sondern ein kleines Dorf mit kaum mehr als drei Straßenzügen ist, das außerhalb der Kleinstadt Bryan liegt, die sich wiederum ein gutes Stück nördlich von Houston befindet. Zur Gemeinde Jacksonville gehört ein großer See, der sinnigerweise Catfish Lake genannt wurde. Die eine Hälfte der Dorfbewohner war Farmer, und die andere Hälfte verdiente ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei. Außerdem gab es noch eine Kneipe, die gleichzeitig ein Restaurant für Catfish-Spezialitäten war, eine Werkstatt für landwirtschaftliches Gerät und einen kleinen Lebensmittelladen. Eine Polizeistation oder eine Feuerwache gab es nicht, all das fand man erst im 35 Meilen entfernten Bryan. Ein Hotel war ebenfalls nicht vorhanden, weshalb ich bei einem der Fischer, Bill Norrell, unterkam. Dieser alte knurrige Witwer, der mir in den nächsten Tagen überwiegend schweigend die Kunst des Catfish-Fangs demonstrierte, hatte eine überaus hübsche zwanzigjährige Tochter, Cynthia, und er hatte mir, gleich als er mir mien Zimmer gezeigt hatte, unmissverständlich klargemacht, daß er mich im See ersäufen würde, falls ich es wagen sollte, sie anzurühren. Was nicht so einfach war, da die wohlbehütete und bis ins Mark gelangweilte Cynthia sofort ein reges Interesse an meiner Arbeit zur Schau stellte, was jedem, der nicht völlig auf den Kopf gefallen war, als ein reges Interesse an meiner Person auffallen mußte. Ich hatte also ein Gutteil meiner Zeit in Jacksonville damit zu tun, ihre Annäherungsversuche abzuwehren, wollte ich nicht als Fischfutter im See enden.

Eines Tages war Cynthia verschwunden. Bill fiel es auf, als sie nicht zum Frühstück herunterkam und er ihr Zimmer leer vorfand. Eine Nachricht hatte sie nicht hinterlassen. Sofort verfiel der ansonsten lethargische Fischer in hastige Unruhe. Er rief ihre Freundinnen an, was ergebnislos blieb, und wies mich dann an, mit ihm gemeinsam die Nachbarschaft abzuklappern und nach Cynthia zu fragen oder nach irgendwelchen Anhaltspunkten, die auf ihr Verschwinden hindeuteten. Ist sie denn schon früher einmal verschwunden, ohne dass sie Bescheid gegeben hätte, fragte ich Bill und dachte mir gleichzeitig, dass sie ja immerhin eine erwachsene Frau sei. Ja, sagte er, mehrmals. Und ich konnte nicht glauben, daß er noch immer jedesmal einen solchen Aufstand machte. Innerhalb einer Stunde wusste es das ganze Dorf. Vor den Häusern standen Menschen mit verschränkten Armen, einige diskutierten die Motive für das Verschwinden oder den möglichen Verbleib Cynthias, andere schüttelten den Kopf über Bill Norrell. Ein Kollege legte ihm schließlich die Hand auf die Schulter und sagte, dass es wohl das Vernünftigste sei, zunächst einmal abzuwarten und der Arbeit wie gewöhnlich nachzugehen. So kam es, daß dem Fischer Bill Norrell an diesem Morgen auf dem Catfish Lake die Leiche seiner eigenen Tochter ins Netz ging.

Der Verdacht fiel sofort auf mich, den Fremden. Ich war an diesem Morgen nicht mit Bill auf dem See gewesen, sondern war im Haus geblieben und hatte an meinem Laptop geschrieben, und so kam es, daß kurz nach dem grausigen Fund ein Horde Dörfler, angeführt von Bill Norrell, in mein Zimmer stürmte und mich unter Beschimpfungen und mit auf den Rücken gedrehten Armen in die Dorfkneipe schleifte, die nicht nur Restaurant, sondern gleichzeitig auch so etwas wie das Rathaus des Dorfes war. Ich konnte es kaum glauben, aber man schien mir dort tatsächlich den Prozess machen zu wollen. Der Gegenstand, den die tote Cynthia um ihren Hals trug und mit dem sie augenscheinlich erdrosselt worden war, schien Beweis genug zu sein: es handelte sich um ein Teil aus meiner Fotoausrüstung, ein Fernauslöserkabel, das ich in den letzten Tagen schon verzweifelt gesucht hatte. Tom Powell, der Kneipenwirt, übernahm den Vorsitz des Standgerichts, und nach einer halben Stunde war das Urteil gesprochen: Tod durch den Strang. Da halfen auch meine Beteuerungen nichts, dass ich ja vollkommen übergeschnappt sein müsse, Cynthia umzubringen, ihre Leiche zu versenken und weiterhin hier zu sitzen, als sie nichts geschehen.

Es war eine absolut unwirkliche Situation. Man schleifte mich, der laut um sein Leben krakeelte, schweigend – denn was zu sagen war, war bereits gesagt worden – zu meiner Richtstätte, der Werkstatthalle des Betriebes für landwirtschaftliches Gerät, organisierte einen Stuhl und warf ein Seil über die Laufschiene des hydraulischen Kranes, die unterhalb der Decke verlief. Gerade als man mich auf den Stuhl bugsieren wollte, um mir die Schlinge umzulegen, erschien eine Freundin Cynthias mit einem Brief in der Hand, der von der Toten stammte. In diesem Brief erklärte Cynthia ihre Absicht, aus Liebeskummer ins Wasser gehen zu wollen und bat ihre Freundin weiterhin flehentlich, niemandem etwas von dieser Absicht zu erzählen, damit sie mit mir, ihrem Geliebten, der, wie sie richtig vermutete, aufgrund des von ihr entwendeten Indizes umgehend standrechtlich hingerichtet werden würde, im Tode vereint sei.

Glücklicherweise hatte die Freundin, ein sechzehnjähriges Mädchen, ihre Gewissensqualen nicht länger ausgehalten und Cyn-thias letzten Plan vereitelt. Noch bevor ich nach Deutschland zurückkehrte, kündigte ich telefonisch bei meinem Arbeitgeber, denn für ein Anglermagazin zu arbeiten, erschien mir fortan schlicht als zu gefährlich. Tim Ingold