das weltwissen der einundvierzigjährigen von SUSANNE FISCHER
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Ja, ich weiß, nur Eltern lesen das Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“, und auch ich kenne es nicht, weil ich es nach 20 Seiten entnervt beiseite gelegt habe. Anscheinend schwingt das Pädagogik-Pendel immer schön dumpf hin und her, mal Richtung Behüten, dann wieder zur Bildung. Im Moment müssen gerade kompetente kleine Wirtschaftssubjekte herangezogen werden, davor waren es bessere Menschen. Nur eines mögen Eltern nicht hören: dass ihre Kinder möglicherweise genauso behämmert sein könnten wie sie selbst und es weder in puncto Menschsein noch in Sachen Geldverdienen wesentlich weiterbringen werden.

Das Weltwissen der Einundvierzigjährigen sagt mir aber beispielsweise, dass es nicht gut ist, in einem Hotelflur ein Schild mit der Aufschrift „Notausstieg durch das Zimmer“ zu lesen, wenn es sich um die zweite Etage einer Villa mit hohen Decken handelt und weder Balkon noch Feuertreppe vor dem Zimmerfenster warten, sondern bloß der reine, nackte Abgrund. Nun gab es keinen Notfall, außer man hält Schriftstellertreffen an sich für einen Notfall. Das wäre auch nicht verkehrt, aber mehr darf ich hier nicht verraten, denn die Presse war nicht zugelassen, damit der Notfall nicht öffentlich und somit peinlich werden konnte. Eigentlich war es aber doch kein Notfall, sondern sehr nett.

Natürlich rechne ich, anders als panische Menschen meiner Umgebung, die das einstürzende World Trade Center unter Missachtung sämtlicher wirklicher Opfer sich sofort als persönliche Todesdrohung ans Revers hefteten, nie ernsthaft mit einem Notfall. Außer in meinen Träumen, in denen es andauernd brennt und ein Schriftstellertreffen plötzlich einem Knast gleicht, aus dem man nicht entkommen kann, und wo jeden Tag dieselbe Suppe serviert wird, nicht die gleiche, sondern ganz ausdrücklich genau dieselbe. Wie das gehen soll, weiß ich nicht, meine Träume enthalten weder Kochrezepte noch technischen Betriebsanweisungen, jedenfalls keine, die über das Niveau „Notausstieg durch das Zimmer“ hinausreichen würden. Deshalb bin ich ihnen oft hilflos ausgeliefert, und ich wünschte nur, es würde zu meinem nächtlichen Weltwissen gehören, dass Träume zwar genauso grauenhaft sind wie die so genannte Realität, aber durch Aufwachen mühelos zu beenden sind, was man von der Realität nicht behaupten kann. Oder kenne ich bloß den Trick nicht?

Anscheinend hat mein dreijähriger Sohn das Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“ längst gelesen, und um der Forderung der Autorin nachzukommen, mit sieben Jahren mindestens ein fremdsprachiges Lied zu beherrschen, hört er täglich etwa fünfzehnmal ein Stück Popgeschichte, das er kreativ als „Hoppladi-Hopplada“ bezeichnet. (Die Bedienung des CD-Players beherrscht er schon lange.) Zum Weltwissen eines Dreijährigen gehört die Kenntnis der Todesumstände John Lennons, die ihn zwangsläufig zur bangen Frage führen, ob jeder damit rechnen müsse, von Verrückten erschossen zu werden. „Nur im Notfall“, sage ich und frage mich, ob als Nächstes Bilden oder Behüten auf unserem Stundenplan steht.