Gutenbergs Erben

Auf der Frankfurter Buchmesse stellen die Verlage auch ihre Webseiten vor. Leider haben sie noch immer nicht begriffen, dass sie auch ihre Bücher im Internet veröffentlichen könnten

von JUTTA HEESS

Frau Kramer hat ein Buch geschrieben. Herr Melchior auch. Ihr Verlag heißt www.my-favourite-book.com, druckt alles, was er kriegen kann, und wirbt mit den Konterfeis seiner Autoren auf ganzseitigen Anzeigen für seinen Service. Ganz im warholschen Sinne: „Everybody’s famous for fifteen minutes.“

Vor einigen Jahren wäre Frau Kramer vielleicht noch auf ihrem Manuskript sitzen geblieben. Doch die neuen Medien ermöglichen mittlerweile das Publizieren für jedermann. Bei „My favourite book“ zum Beispiel wird eine Auflage von 500 Exemplaren über das Internet zum Verkauf angeboten – allerdings muss der Autor zuallererst eine Titelpauschale von 5.700 Euro zahlen, später erhält er 50 Prozent von jedem verkauften Buch.

Frau Kramer hätte sich aber auch an einen Books-on-Demand-Verlag wenden können. Dem Buchdruck auf Anfrage wird gelegentlich nachgesagt, er könne die Verlagswelt revolutionieren. Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick nur Vorteile zu geben: Der Verlag hat das Buch von Frau Kramer digitalisiert, ich will das Buch haben, bestelle per Internet, der Verlag druckt Frau Kramers Buch einmal aus und schickt es mir zu. Wenn ich die Einzige bleiben sollte, die das Werk lesen will, hat der Verlag zwar ein Buch mehr im Katalog, jedoch enorme Druck- und Lagerkosten gespart.

Hat das herkömmlich gedruckte Buch mit seinen Mindestauflagen nun endlich ausgedient? Vorhergesagt wird sein Untergang ja in regelmäßigen Abständen, Initiator dieser Beschwörungstheorien war 1962 Marshall McLuhan, der das Ende der „Gutenberg Galaxis“ prophezeite. Doch vierzig Jahre später sind wir trotz Erfindungen wie CD-ROM, Books-on-Demand und E-Books von einer halbwegs vollständigen virtuellen Bibliothek weit entfernt. Und das, obwohl zurzeit auf der Frankfurter Buchmesse mal wieder „die digitale Revolution im Publishing“ ausgerufen wird. Von den 6.800 Ausstellern bietet bereits jeder Dritte elektronische Produkte an. Aber angesichts der rund 100.000 Bücher, die allein in Deutschland jährlich auf den Markt kommen, hat es die E-Leseware relativ schwer. Wer möchte schon ein E-Book von Reich-Ranickis „Mein Leben“, wenn das gedruckte Original schon ungelesen im Regal steht?

Digitale Neuerscheinungen von halbwegs literarischem Rang gibt es in der Regel keine, zu sehr und unbedingt wollen Autoren schwarz auf weiß erscheinen. Und das ausschließlich. Doch auch die Leser haben nicht viel Spaß an den E-Books, da die zur Lektüre erforderlichen Geräte schon mal runde 700 Mark kosten.

Viel billiger werden sie nicht werden, denn es gibt längst ein anderes Medium, in dem man elektronisch lesen kann: das Internet. Aber literarisch ist es nicht weniger verwaist als das teure Offlinespielzeug, zumindest was die Gegenwartsliteratur betrifft. Wieso verkaufen Verlage die Werke ihrer Autoren nicht zweigleisig? Einmal im Netz, einmal im Buchladen?

Es gibt genug Möglichkeiten, Texte im Netz kostenpflichtig anzubieten. Damit wäre zwar endlich ein erster Schritt in Richtung virtuelle Lesekultur getan, doch Autoren wie Verlage sehen mit Grausen ihren Napster voraus. Kein Pay-for-Read wird digitalisierte Texte dauerhaft vor dem freien Tausch in Peer-to-Peer-Netzen freier User schützen. Das Internet-Überwachungsunternehmen Envisional gab rechtzeitig zur Frankfurter Messe bekannt, dass heute über 7.000 urheberrechtlich geschützte Bücher im Web heruntergeladen werden können – kostenlos und eingescannt aus der Druckausgabe von begeisterten Lesern. Sie sind es, nicht die Verlage, die heute definieren, was Literatur im Internet ist: Außer Bekenntnishobbyprosa und einigen Experimenten bekannter Autoren wie Stephen King, Matthias Politycki und Rainald Goetz enthält sie fast ausschließlich Werke von Autoren, die vor mindestens 70 Jahren vertorben sind. Denn nur diese Texte sind frei von Copyrights und dürfen deshalb gefahrlos in das größte deutsche Netz-Literaturarchiv, das Projekt Gutenberg, aufgenommen werden. Unter gutenberg.aol.de sind heute 250.000 Textseiten abrufbar – 1.200 vollständige Romane, Erzählungen und Novellen, 4.800 Gedichte, Märchen, Fabeln und Sagen von mehr als 1.000 Autoren.

Seit 1994 wird diese deutschsprachige Bibliothek gehegt und gepflegt, und sie verzeichnet mittlerweile bis zu 1,5 Millionen Pageviews im Monat. Ähnliche, ständig wachsende Projekte gibt es in anderen Sprachen, zum Beispiel das amerikanische Project Gutenberg (www.promo.net/pg), das schwedische Projekt Runeberg (www.lysator.liu.se/runeberg) oder die französische Association des Bibliophiles Universels (abu.cnam.fr).

So immerhin lassen sich alte literarische Texte im neuen Medium lesen. Aber gerade damit stellt sich die Frage, inwieweit es ein Vergnügen ist, ausgerechnet in Goethes „Faust“ oder Kafkas „Schloss“ am Bildschirm zu schmökern. Eine flotte Erzählung von T. C. Boyle oder ein paar Seiten Arno Schmidt in der Mittagspause wegzulesen wäre hingegen leistbar und vermutlich auch ganz amüsant. Aber beide dürfen online nicht auftreten – der eine lebt noch, der andere ist noch nicht lange genug tot. Doch vielleicht sind die heiligen Urheberrechte gar nicht der wahre Grund, warum sich Literatur im Internet nicht wirklich breit macht. Lesen vor der Computermattscheibe ist noch immer unbequem. Bei wissenschaftlichen Texte oder Datenbanken wird die Mühe eher in Kauf genommen, Leser solcher Texte suchen nach schnellen Informationen. So findet man mittlerweile unter www.britannica.com die vollständige Encyclopædia Britannica – ein kostenloses Nachschlagewerk, das vor zehn Jahren in der gebundenen Ausgabe noch knapp 10.000 Mark wert war. Das Stichwort „literature“ liefert die Defintion: „a body of written works“. Von „digital works“ steht da nichts. Auch im Internet wird Jorge Luis Borges’ Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ eine Fiktion bleiben: „Als verkündet wurde, dass die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl.“

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