Staunen am Gelben Fluss

Vom Feind zum Alliierten der USA: Die neue Rolle Chinas täuscht. Der heiße Krieg in Afghanistan könnte zum kalten Krieg zwischen den Großmächten werden

Afghanistan ohne Bin Laden: China und die USA könnten sich auf gegnerischen Seiten wiederfinden

Vor dem 11. September erschien China wechselweise als Gewinner der Globalisierung, wiederkehrende Großmacht und Zukunftsland des 21. Jahrhunderts. Doch wer redet heute noch von China? Amerikas „Allianz gegen den Terror“ kommt ohne die Volksrepublik aus.

Plötzlich ist das zuvor scheinbar unaufhaltsam aufstrebende China auf seinen tatsächlichen Status zurückgeworfen: den eines armen Dritte-Welt-Landes, dem im Ernstfall auf der Weltbühne nur eine Statistenrolle gebührt. Nichts hat das Land, das eben noch die westlichen Konzernchefs durch seine unbegrenzten Investitionsmöglichkeiten entzückte, heute noch den Anti-Terror-Strategen zu bieten: weder exklusive Geheimdiensterkenntnisse noch Himalaja-trainierte Kommandotruppen. China, obwohl ein Nachbarland Afghanistans, ist verbannt zum passiven Zuschauen.

Man möchte meinen, die Chinesen könnten darüber glücklich sein. Das aber sind sie nicht. Die meisten Chinesen, die in armen Verhältnissen auf dem Land leben und über die staatlichen Medien eher nüchtern informiert wurden, haben die Ereignisse nicht als welterschütternd wahrgenommen. Umso mehr wundert sich nun der Bauer am Gelben Fluss, wenn die Amerikaner Afghanistan bombardieren und Peking applaudiert. Denn das Bündnis mit den USA empfinden die meisten Chinesen durchaus als Neuheit – zumal wenn Peking dabei nichts zu sagen hat.

Nicht weniger unzufrieden sind die über Internet und private chinesische Medien gut informierten städtischen Intellektuellen. Sie haben die Worte und Taten der US-Regierung seit dem Amtsantritt von Präsident Bush als eine Kette von Provokationen wahrgenommen – von der Qualifizierung Chinas als „Rivale“ und „strategischer Gegner“ bis zu den umfangreichen neuen Waffenlieferungen der USA an Taiwan. Soll das nach dem 11. September alles vergessen sein? Wenngleich von Hohn und Schadenfreude nach den Terroranschlägen in China wenig zu spüren war, empfindet es fast jeder frei denkende Chinese als gut und recht, gegenüber den politischen Ambitionen Washingtons skeptisch zu bleiben. Es bedarf schließlich keiner großen Fantasie, um den Amerikanern bei der Eroberung Afghanistans neben der Terrorismusbekämpfung auch andere Ziele zu unterstellen: zum Beispiel die militärische Einkreisung der Volksrepublik.

Umso erstaunlicher ist die eindeutige Haltung der chinesischen Regierung: Sie hat sich mehr als je zuvor den Amerikanern zum Beistand verpflichtet. Pekinger Diplomaten sehen einen ihrer größten Erfolge darin, dass ihre Regierung nach den Attentaten „schneller als Japan“ den USA volle Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zusagte. Selbst nach dem Beginn der Bombardierung in Afghanistan verzichtet man auf alle Kritik: „Wir sollten in dieser Situation vermeiden, den Amerikanern zusätzliche Selbstzweifel aufzudrängen“, tönt es devot aus dem Pekinger Außenministerium, das sonst auch bei kleineren Anlässen nicht zögert, den „Hegemonismus“ der einzigen Supermacht anzuprangern.

Pekings Kalkül ist wohlüberlegt: 40 Prozent des chinesischen Bruttosozialprodukts sind von Exporten und Auslandsinvestitionen abhängig, von denen widerum die Hälfte von den USA und Japan abgewickelt werden. Die arabischen und zentralasiatischen Staaten haben für China trotz ihrer Öllieferungen eine nicht annäherend vergleichbare ökonomische Bedeutung.

Ebenso leicht lässt sich Pekings politisches Interesse erkennen: Durch die eindeutige und schnelle Solidarisierung mit dem Westen will man Vertrauen gewinnen und einem Feinddenken in Washington zuvorkommen, das dem Land einen nicht gewinnbaren Rüstungswettlauf aufzuzwingen droht. Tatsächlich hat sich dieses Vorgehen bereits bewährt: Im Strategiebericht des Pentagons, Ende September mit viel Spannung hinsichtlich einer neuen Feindbeschreibung Chinas erwartet, wird die Volksrepublik mit keinem Wort erwähnt. In letzter Minute wurde der Bericht umformuliert – nicht mehr China war die zentrale Herausforderung für die amerikanische Verteidigungspolitik, sondern der internationale Terrorismus.

So entsteht der Eindruck, dass Anti-Terror-Allianz und Afghanistankrieg China und Amerika zusammenrücken lassen. Das ist von beiden Regierungen gewollt: Neue Ängste vor einem Großmachtkonflikt in Asien, die den Planern einer amerikanischen Raketenabwehr im Weltraum noch vor wenigen Monaten gar nicht ungelegen kamen, will derzeit auch Washington nicht schüren. Schon sehen Verteidigungsexperten auf beiden Seiten die Terrorismusbekämpfung als genuin gemeinsames Interesse, das den politischen Beziehungen eine neue strategische Grundlage geben kann. Doch spielt Zweckoptimismus offenbar eine große Rolle.

Denn niemand will zurzeit einräumen, dass eine der größten Eskalationsgefahren des Afghanistan-Kriegs gerade darin liegt, dass ein offener chinesisch-amerikanischen Interessenkonflikt ausbrechen könnte. So ist völlig unklar, wie China auf eine permanente US-Truppenpräsenz an seiner westlichen Grenze reagieren würde. Auch könnten sich China und die USA schnell auf unterschiedlichen Seiten wiederfinden, wenn es um die politische Neuordnung in Afghanistan ohne die Taliban geht. Eine ähnliche Konfrontation droht im Kaschmir-Konflikt, wo China zu Pakistan tendiert und Amerika sich Indien annähert. Die denkbare Folge: langjährige Guerillakriege, in denen Washington und Peking jeweils unterschiedliche Seiten mit Waffen versorgen.

Wie würde China auf permanente US-Truppenpräsenz an seiner westlichen Grenze reagieren?

Nicht geringer sind die Risiken für die derzeitige Sicherheitsarchitektur in Nordostasien, die schon allein dadurch gesprengt werden könnte, dass sich Japan von seiner immer veralteter wirkenden Friedensverfassung verabschiedet. Tokio entsendet schon jetzt Kriegsschiffe in den Nahen Osten, was einer strengen Verfassungsauslegung widerspricht. Premierminister Junichiro Koizumi befürwortet deshalb eine Verfassungsänderung, die das Verbot des berühmten Paragrafen 9 beseitigt, demnach Japan an militärischen Aktionen außerhalb seiner Landesgrenzen nicht teilnehmen darf. Je länger nun der Krieg in Zentralasien andauert, desto größer sind Koizumis Chancen, dass die USA einer Verfassungsänderung zustimmen. Zugleich aber wären die Reaktionen in Peking unvorhersehbar. Zum Beispiel könnte China helfen, Nordkorea militärisch gegen Japan in Stellung zu bringen.

Es mag zwar beruhigen, dass die Regierungen in Peking und Washington diese Gefahren erkannt haben und deshalb seit dem 11. September äußerste Vorsicht im Umgang miteinander walten lassen. Doch können allein die unterschiedliche Stimmungslagen der Bevölkerung im Krieg – derzeitige Ohnmachtsgefühle in China, zukünftige Allmachtsfantasien in Amerika – über kurz oder lang einen Großmachtkonflikt auslösen, der das Potenzial hätte, alle anderen Konflikte zu überdauern.

GEORG BLUME