Zur Philosophie des Teetrinkens

Keine Gitter für das göttliche Getränk: Bei einer Recherchereise nach Peking unterhielt sich der Autor und Ernährungswissenschaftler Roland Possin mit einem alten Chinesen über die Kunst des Teetrinkens

„Ich schlage Ihnen ein kleines Geschäft vor“, sagte der alte Mann mit einem Lächeln: „Sie erzählen mir aus Ihrer wissenschaftlichen Sicht etwas über grünen Tee und ich gebe Ihnen meine Erfahrungen mit dem Ur-Tee preis.“ Ich war einverstanden.

„Der grüne Tee wirkt nicht über die Beschleunigung der Herztätigkeit auf den Kreislauf, sondern über die Stimulans des Gehirnstoffwechsels direkt auf das zentrale Nervensystem. Das hat zur Folge, dass die körpereigenen Energien aktiviert werden. Er wirkt daher nicht wie Kaffee aufregend, sondern leicht anregend. Grüner Tee hat mehr Karotin als Möhren. Ihm mangelt es auch nicht an Vitamin C. Aufgrund dieser Vitamine stärkt er das Immunsystem und schützt damit vor Erkältung und Krebs. Neben diesen Vitaminen enthält der Grün-Tee auch die Mineralstoffe Calcium, Fluor, Kalium, Kupfer, Magnesium und Zink. Außerdem wichtige Enzyme für den Stoffwechsel. Grün-Tee senkt auch den Cholesterinspiegel, vor allem das ‚schlechte‘ LDL-Cholesterin. Das ‚gute‘ HDL-Cholesterin wird von ihm dagegen aktiviert. Diese Eigenschaft sowie der Gehalt an Polyphenolen wirken einer Verkalkung der Arterien entgegen. Der regelmäßige Genuss von Grün-Tee senkt beim Menschen den Bluthochdruck, wie japanische Wissenschaftler herausgefunden haben. Sie stellten fest, dass die im Grün-Tee enthaltene Substanz Katechin verschiedene Stoffwechselfunktionen harmonisieren kann, die sonst Bluthochdruck hervorrufen können.“

Prüfend blickte ich mein Gegenüber an, um zu schauen, ob er meinen Worten noch folgte. Dann erzählte ich weiter. „Weil Grün-Tee auch basenbildend wirkt, übt er einen positiven Einfluss auf Gicht und Rheuma aus. Aber auch bei Sodbrennen ist er hilfreich. Bei Ekzemen kann er den inneren Heilungsprozess unterstützen. Interessant ist der Grün-Tee auch für Diabetiker, denn er senkt den Blutzuckerspiegel. Diese Wirkung ist auf das Spurenelement Mangan zurückzuführen. Da der Tee harmonisierend auf zu großen Appetit wirkt, eignet er sich vorbeugend oder begleitend bei Übergewicht. Wer Probleme mit Mundgeruch hat, kann durch regelmäßiges Spülen des Rachenraums mit Grün-Tee Abhilfe schaffen. Es gibt Studien, die belegen, dass dadurch Karieserreger abgetötet werden. Deswegen empfiehlt es sich, den Mund nach den Mahlzeiten mit Grün-Tee zu spülen.“ Mit stolzem Blick über mein ausgeprägtes Wissen und einem genüsslichen Schluck aus der Teetasse beendete ich meinen Vortrag.

Unbeeindruckt sah mich der alte Mann an: „Da habt ihr westlichen Gelehrten viel Wissen zusammengetragen. Wir Chinesen kennen den Grün-Tee schon seit mehr als 3.000 Jahren. Auch ohne wissenschaftliche Untersuchungen wissen wir, dass er bedeutend für die Gesundheit ist. Die Geschiche erzählt, dass der grüne Tee 2737 vor der westlichen Zeitrechnung von einem der ersten Kaiser – Sheng Nung – entdeckt wurde. Dieser galt in China als Vater der Arzneikunde, weil er der Legende nach viele hundert Heilkräuter erprobt haben soll. Die Überlieferung sagt, dass er bei einem seiner Jagdausflüge Trinkwasser abkochte. Da fielen einige Blätter eines wilden Strauches in das kochende Wasser. Dieses färbte sich grün. Als Sheng Nung daran roch, schmeichelte ein köstlicher Duft seiner Nase. Von Neugier gepackt, entschloss sich der Kaiser, dieses Getränk zu kosten. Er war begeistert von dem Geschmack und fühlte sich außergewöhnlich wohl, obwohl er den ganzen Tag auf der Jagd gewesen war. Damit war die Entdeckung der Teepflanze geboren.“

Nun beugte sich der alte Mann über den Tisch und flüsterte mir ins Ohr: „Weiß eure Wissenschaft eigentlich auch etwas darüber, dass es nicht nur wichtig ist, was man trinkt, sondern auch, wie man trinkt ?“

„Tee ist kein Durstlöscher, Tee ist ein heiliges Getränk der Götter. Um das Geheimis, das er ausstrahlt, zu erfahren, bedarf es der Kunst der richtigen Zubereitung. Ich koche das Wasser auf und lasse es dann für fünf bis zehn Minuten abkühlen. Jetzt hat das Wasser eine Temperatur von ungefähr sechzig Grad und ist bereit, sich mit den edlen Blättern der Teepflanze zu verbinden. Benutzen Sie bei der Zubereitung keine Filter oder Siebe: Das ziemt sich nicht für ein göttliches Getränk. Oder könnten Sie sich vorstellen, sich hinter Gittern frei zu entfalten?

In China praktizieren wir die Kunst des Teewaschens. Dazu nehme ich pro Tasse einen gestrichenen Teelöffel Tee, schütte ihn in eine vorgewärmte Kanne und gieße das mittlerweile abgekühlte Wasser darüber. Das Ganze lasse ich ungefähr dreißig Sekunden ziehen und schütte das Teewasser durch ein Sieb ab. Dadurch entferne ich den größten Teil des Koffeins. Der Tee wird milder und besser bekömmlich. Nun gebe ich zumTee noch mal heißes Wasser und lasse ihn sechzig Sekunden ziehen. Das fertige Getränk gieße ich nun durch das Sieb in eine ebenfalls vorgewärmte zweite Teekanne. Die Teeblätter können übrigens für drei Aufgüsse verwendet werden. Das spart Geld.“

ROLAND POSSIN